Von der Rathausgasse ins Wisa-Gloria-Areal: Orb-it schliesst, aber das Label lebt weiter
Rathausgasse Die Rathausgasse verliert seinen bekannten Second-Hand-Laden Orb-it. Vorbei ist es mit dem Label trotzdem nicht: Besitzerin Tanja Erskine führt den Onlineshop weiter und zieht dafür in die ehemaligen Nikin-Räumlichkeiten im Wisa-Gloria-Areal. Auch Tage der offenen Tür, Pop-up- und Shop-in-Shop-Lösungen sind geplant.

Samstagmorgen in der Rathausgasse. Tanja Erskine öffnet die Tür zu ihrem Second-Hand-Laden. Sie lächelt, trägt farbenfrohe Kleidung, alles zweite Hand natürlich. Sie lebt das Motto ihres Labels Orb-it – das Wort ist angelegt ans Englische «to orb», etwas weitergeben. Aber die Tage sind gezählt. Auf dem Schaufenster prangen «Sale»-Plakate. Bald schon wird der Second-Hand-Shop das letzte Mal öffnen. Dabei war der Laden ihr Herzensprojekt. «Kurz nach der Kündigung der Ladenfläche fragte ich mich fast täglich, ob die Entscheidung doch falsch war», gesteht die 35-Jährige.
In einem langen Gang hinter der Verkaufsfläche reihen sich Regale aneinander, die bis zur Decke mit ordentlich gestapelter Kleidung gefüllt sind. Hier Winterpullover, dort Sommerkleider und T-Shirts, Hosen, Röcke in verschiedensten Farben und Schnitten. Erskine kennt jedes Teil, berührt die Kleidungsstücke fast zärtlich. Sie zeigt auf ein schwarz-blau-weisses Kleid, «aus den 90ern, klassisch mit der Knopfreihe vorne». Dann tippt sie auf verschiedene Kleidungsstücke in Mint, Hellgelb, Türkis, Weiss: Sie denke schon lange über eine Glace-Kollektion nach, erzählt sie.
«Ich denke in Kollektionen», sagt Erskine, die viele Jahre beim Modelabel Zara das Visual Merchandising verantwortete. In ihrem eigenen Laden gibt es daher regelmässig neu kombinierte Stücke zu entdecken, die die diplomierte Stilberaterin in Brockenhäusern und auf Internetplattformen wie Ricardo, aber auch in Spenden findet. Die Schaufenster dekoriert sie saisonal passend, auch das Lenzburger Jugendfest wird thematisch jährlich mit weiss-blauen Kollektionen aufgegriffen. Auf den Preisschildern stehen neben dem Orb-it-Logo handgeschriebene Tipps, womit sich ein Teil gut kombinieren liesse. Zum Beispiel «Kombiniere mich mit Sneakers und einer Bluse für einen sommerlichen Look.» Aber auch «Jeansshorts wie mich» braucht es in jedem Kleiderschrank.
Verlust für die Rathausgasse
An diesem Samstag kommt eine Kundin nach der anderen herein, durchstöbert die Kleiderstangen, tauscht ein paar Worte mit Erskine. Eine Kundin sagt: «Ich schätze, dass der Laden so übersichtlich ist und mich das Angebot nicht wie in grossen Brockis erschlägt.» Diejenigen, die von der Schliessung erfahren, reagieren betroffen. Eine sagt: «Was für ein Verlust für die Rathausgasse. Wir sind hier halt doch in der Provinz, so ein Geschäft läuft wohl besser in Zürich und Aarau!» Aber eine fehlende Nachfrage kann Tanja Erskine nicht bestätigen.
Als Erskine, im Freiamt aufgewachsen, den Laden vor sechs Jahren öffnete, habe sie noch öfter Kundinnen und Kunden mit Berührungsängsten rund um Second-Hand-Mode angetroffen. «Oh, das ist Second Hand?», zeigten sich vor allem Frauen über 50 erstaunt und winkten ab. Heute aber zählen zu Tanjas Stammkundinnen Frauen allen Alters, von 20 bis über 70-jährig. Erskine beschreibt sie als «lebensfrohe Frauen, die Spass daran haben, sich über ihre Kleidung auszudrücken und die es schätzen, dass ein Kleidungsstück eine Geschichte erzählen kann». Einige kommen alle zwei Wochen vorbei. Auch aus anderen Kantonen reisen Modeinteressierte extra für Orb-it nach Lenzburg an, die über den Instagram-Account darauf aufmerksam wurden. Selten auch Männer, die Auswahl ist beschränkt, man finde kaum ausgefallene gebrauchte Stücke, die zu Orb-it passen würden, erklärt Erskine. Sie hatte sich bei der Eröffnung bewusst für Lenzburg als Standort entschieden. «Ich wollte der Region, in der ich lebe, etwas zurückgeben.»
Ob Zürich oder Lenzburg: «Die Marge von Second-Hand-Mode ist oft klein», sagt Erskine. Und sie fügt hinzu: «Für viele Schweizer ist ihr Beitrag an Nachhaltigkeit, dass sie Kleider spenden. Was ja schön ist. Aber wirklich etwas ändern kann nur, wer auch gebrauchte statt neue Kleidung kauft.» Der Laden laufe zwar kostendeckend, trotz Miete von neu 1750 Franken pro Monat. Leben kann Erskine von dem Geschäft aber nicht. Damit erklärt sie auch die seltenen Öffnungszeiten nur freitags und samstags. «Wir hatten eine Zeit lang auch am Dienstag geöffnet, standen dann aber praktisch allein im Laden. Das lohnte sich nicht.»
Mehr Zeit für die Familie
Der Grund für die Schliessung ist persönlicher Natur. Tanja Erskine führt den Laden mit ihrem Mann Dominic Erskine, nachdem ihre Geschäftspartnerin vor drei Jahren ausstieg. Nun steht das Ehepaar, das mit dem zweijährigen Kind in Niederlenz lebt, abwechselnd hinter der Theke. Er ist Vollzeit-Papi, sie mit einem 70%-Pensum im Spielerschutz im Casino in Baden tätig. «Als unser Sohn ein Baby war, konnten wir ihn mit in den Laden nehmen, aber seit er laufen kann, findet er das nicht mehr spannend», sagt Erskine. Der Wunsch: Mehr Flexibilität an den Wochenenden als Familie und mehr Zeit, um die Heimat ihres Mannes in England zu besuchen, wo Erskine selbst drei Jahre lang lebte.
Die gute Nachricht für Anhänger von Orb-it: Mit dem Label wird es in anderer Form weitergehen. Erskine zieht in die ehemaligen Nikin-Räumlichkeiten auf dem Wisa-Gloria-Areal. Auf 40 Quadratmetern entstehen ein Lager und ein Fotostudio für den Onlineshop, den sie in der Coronazeit aufbaute. «Wir werden vielleicht auch dort die Türen ab und zu öffnen», sagt Erskine. Konzentrieren will sich die Modekennerin künftig auf hochwertige Vintage-Stücke. Kein Fast Fashion mehr von Zara, H&M & Co. «Dann ist die Marge auch grösser.» Neben dem Standort auf der einstigen Spielzeugfabrik plant Erskine mit Orb-it auch Shop-in-Shop-Lösungen und Pop-up-Läden. So wird ab Ende Mai eine Kollektion von Erskine im Café Nikolina in der Rathausgasse zu sehen sein. Das Gleiche gilt für den Kinder-Second-Hand-Shop Kids, geführt vom gemeinnützigen Frauenverein Lenzburg. Auch die Boutique Little Brick Lane in der Badenerstrasse in Zürich nimmt eine Auswahl an Erskines Kleidern auf. Und die erwähnte Glace-Kollektion hat mit einer Zürcher Eisdiele vermutlich auch schon einen Abnehmer gefunden.
Abschiedsapéro und Schlussverkauf
«Wir machen jetzt einen Schritt zurück, um später wieder einen Schritt nach vorne zu gehen», sagt Erskine. Und vielleicht, fügt sie lächelnd an, eröffne sie ja doch irgendwann wieder einen Laden in Lenzburg, wenn ihr Kind etwas grösser sei. Vorerst aber wird die Rathausgasse auf den Second-Hand-Laden, der eben auch Interessierte aus der ganzen Schweiz anzog, verzichten müssen. Eine Nachfolgelösung fand sich nicht. Nachmieter ist ein Bestattungsunternehmen, das die Türen im Juli öffnen wird. Tanja Erskines offener Abschiedsapéro findet am Freitag, den 23. Mai 2025, ab 16 Uhr statt. Interessierte sind dann in die Rathausgasse 27 eingeladen, um anzustossen und noch ein letztes Schnäppchen machen.