Lernen, sich selbst zu ehren: Wie Mädchenkreise einer Schambehaftung entgegenwirken sollen

Angebot für Mädchen Im September beginnen die Mädchenkreise von Franziska Hunkeler-Scholer. Es ist ein Angebot für Mädchen, sich mit sich selbst und ihrer Veränderung zu jungen Frauen auseinanderzusetzen. Anhand der zahlreichen Anmeldungen wird klar: Das Thema hat Nachholbedarf.

Im Waldwagen der Kita Purzelhuus mitten in der Natur sind die jungen Frauen unter sich. Franziska Hunkeler-Scholer hat in ihrem Koffer diverses Material, darunter Binden und Tampons. Foto: rfb

Vulva, Brüste, Vagina: Ausdrücke, auf denen ein Stigma liegt. Während Väter im Winter ihren Jungs beibringen, ihre Namen in den Schnee zu pinkeln, wachsen Töchter im Umgang mit ihren biologischen Geschlechtsmerkmalen schambehafteter auf. Ein Umstand, welcher der Sexual- und Sozialpädagogin Franziska Hunkeler-Scholer keine Freude bereitet. Zwar finde sie es gut, dass Jungs mit ihrem Geschlechtsteil einen vertrauteren Umgang haben.

Jedoch solle es für Mädchen gleich sein. Im Mädchenkreis, einem Angebot für Mädchen von 10 bis 14 Jahren, sollen sie Selbstvertrauen aufbauen. «Unsere Töchter sollen bestärkt werden, dass sie wertvoll und schön sind», erklärt sie. «Und sie sollen wissen, dass nichts an ihren Körpern und Emotionen falsch ist.»

Vier Schwerpunkte während eines Jahres

Die Mädchenkreise finden viermal im Jahr statt. So kann das Vertrauen in die Gruppe gestärkt werden. Während jedem Treffen wird ein Schwerpunkt behandelt. Zu Beginn sollen die Teilnehmerinnen ihr «erstes Zuhause» benennen. «Das ist nicht etwa das Elternhaus, sondern die Gebärmutter», erklärt die Pädagogin. Es gehe darum, dass jedes Kind etwas Wundervolles ist. «Und dieses Wunder beginnt im weiblichen Körper.» Ebenfalls werden Menstruations- und andere Damenhygieneartikel erklärt und gezeigt. Dabei werde auch viel gelacht. «Wir machen dann etwa Werbespots für Binden und Tampons, was immer wieder zu lustigen und kreativen Ergebnissen führt», berichtet sie weiter. Lachen helfe gegen jedes Stigma. Beim zweiten Kreis geht es dann um den Zyklus. Als Vergleich bedient sich Hunkeler-Scholer an den vier Jahreszeiten. «Auch der weibliche Körper erlebt Winter, Frühling, Sommer, Herbst. Daran ist nichts Schmähliches oder Peinliches zu erkennen.» Sie meint damit, dass auch im Körper der Frau Zeiten spürbar sind, in denen man sich eher zurückzieht wie im Winter und es dann aber auch Zeiten gebe, in denen Frauen wieder mehr Energie hätten wie im Sommer. «Auch emotionale Herbststürme sind uns nicht unbekannt», meint sie weiter. Zur Unterstützung dürfen die Mädchen eigene ätherische Öle herstellen.

Beim dritten Kreis wirds plastischer: Beispielsweise wird anhand eines medizinisch korrekten Modells einer Vulva vermittelt, wie diese aufgebaut ist und was im Hintergrund passiert. Die Pädagogin sei immer wieder überrascht, wie wenig Wissen um das eigene Geschlecht vorhanden sei. Nicht nur bei den Mädchen, sondern auch bei Erwachsenen. «Das erlebte Wissen wird durch Gestaltung mit Ton ausgedrückt.» Beim letzten Treffen gibt die Sexualpädagogin noch letzte Inputs, reflektiert und gibt den Girls auf den Weg, dass sie wertvoll sind, wie sie sind. Ebenfalls gibt es eine kleine Tasche mit Damenhygieneartikeln darin. «Die Herausforderung bleibt für die Mädchen, nie zu wissen, wann die erste Mens eintritt.» Doch mit guter Vorbereitung könne auch Vorfreude auf dieses Ereignis geschaffen werden.

Rückmeldungen positiv

Die Mädchenkreise gibt es seit gut zwei Jahren. Seither hätten sich viele Mütter bei der Kursleiterin zurückgemeldet. Sie seien durchwegs positiv ausgefallen. «Viele sind überrascht, mit wie viel Selbstvertrauen und Offenheit ihre Töchter nun mit ihrer Mens, ihren Emotionen und vermeintlich «peinlichen» Themen umgehen würden. Oder auch mit welcher Selbstverständlichkeit beim Einkaufen Binden oder Tampons im Wägeli landeten. Auch von den Teilnehmerinnen kommt viel gutes Feedback. Die Mädchen würden sich nicht mehr verstecken, sondern könnten nun offen über diese Themen reden, meint Franziska Hunkeler-Scholer. «Wenn anfangs noch über Wörter wie ‹Vulva› und ‹Brüste› gekichert oder peinlich berührt geschwiegen wurde, werden solche Begriffe nun mit Selbstvertrauen ausgesprochen.»

Der weibliche Körper als ewige Baustelle

Der Hang zur Unzufriedenheit ist ein Ergebnis aus Vorurteilen, fehlendem Wissen und gefährlichen Internettrends. Während heute viele Expertinnen und Experten auf den schädlichen Einfluss von Social Media oder Internetpornografie aufmerksam machen, begann der Kampf gegen die Naturbelassenheit des weiblichen Körpers bereits lange vor dem Internet.

Die oft religiösen und patriarchalen Kreisen zuzutragende Illusion der verpflichtenden Unschuld tabuisierte die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper auf geistiger Ebene über Generationen hinweg.

Angebote, natürliche Weiblichkeit zu «korrigieren», gibt es seit Jahrzehnten: die Brüste zu schlaff, der Po zu rund, die Hüfte zu üppig. Die Herabsetzung der Vulva als etwas Unästhetisches, sollte sie vom suggerierten Status quo der Schönheitsindustrie abweichen, ist eine vergleichsweise junge Entwicklung. Doch sie ist rasant im Aufwind. Das ist der Sexualpädagogin ein Dorn im Auge: «Wir behandeln viel Fachliteratur. Die Mädchen sollen wissen, dass nichts an ihnen unästhetisch ist.»

Ergänzend zu den Mädchenkreisen bietet Franziska Hunkeler-Scholer seit Neuestem den «Girls Talk» an. An diesem können sich ehemalige Teilnehmerinnen mit ihren Freundinnen weiterhin in einem vertrauensvollen Raum austauschen dürfen.

Informationen und Anmeldung unter natur-mensch-tier.ch. Der nächste Mädchenkreis beginnt im September.

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