Vom Alpenblick zum Blättermeer: Die «Vue des Alpes» ist aussichtslos
Lenzburg Aus der «Vue des Alpes» ist eine «Vue des Arbres» geworden: Wo man einst bis zum Säntis blickte, stehen heute Kirschbäume. Der Forstbetrieb Lenzia nimmts mit Humor – und erklärt, warum die Aussicht nun der Natur gehört.
Wer in den letzten Tagen im Lütisbuech unterwegs war, dem Punkt, wo Lenzburg, Ammerswil und Hendschiken zusammentreffen, dem ist vielleicht eine kleine, aber feine Veränderung aufgefallen. Dort, wo einst das Schild «Vue des Alpes» auf eine prächtige Weitsicht hinwies, steht nun ein neues – mit der Aufschrift «Vue des Arbres». Ein Scherz? Oder schlicht eine realistische Beschreibung der neuen Aussichtslage?
Tatsächlich steckt hinter dem neuen Namen keine Laune, sondern eine natürliche Entwicklung, wie sie im Wald immer wieder vorkommt. Stadtoberförster Matthias Ott erklärt: «Um das Jahr 2010 hat der Wind zusammen mit dem Borkenkäfer im betreffenden Abschnitt eine Lücke in den Bestand gerissen. Plötzlich bot sich von hier aus eine überraschend weite Sicht: An klaren Tagen reichte der Blick bis zum Säntis und zu den Churfirsten.» Der Forstbetrieb nutzte damals die Gelegenheit und stellte eine Sitzbank zum Verweilen auf. Wer sich dort niederliess, konnte die Ruhe geniessen und den Blick über das sanfte Hügelland bis in die Ostschweizer Alpen schweifen lassen – eine Aussicht, die kaum jemand erwartet hätte so nahe bei Lenzburg.
Wenn die Aussicht der Natur weicht
Doch die Natur ruht nicht. Was damals kahl und offen lag, ist heute wieder grün. In den vergangenen Jahren sind junge Bäume herangewachsen – schnell, kräftig und gesund. Und so verdecken sie nun, besonders im belaubten Zustand, den Blick auf die Alpen fast vollständig. Aus der «Vue des Alpes» ist folgerichtig eine «Vue des Arbres» geworden.
Auf Nachfrage bestätigt Matthias Ott, dass die Forstdienste Lenzia selbst das neue Schild montiert haben. «Ein Augenzwinkern darf erlaubt sein», meint er, der die Situation mit Humor nimmt. «Wir wollten nicht einfach die Bank entfernen oder ein veraltetes Schild stehen lassen. Der Wald hat sich verändert – und wir wollten das sichtbar machen.»
Die Frage, die viele Spaziergängerinnen und Spaziergänger seither stellen, liegt auf der Hand: Warum werden die störenden Bäume nicht einfach gefällt, um die Aussicht wieder freizugeben? Matthias Ott erklärt: «Das wäre gar nicht erlaubt. Das Waldgesetz schreibt vor, dass ein Wald nicht dauerhaft niedergehalten werden darf. Wir dürfen also nicht verhindern, dass Bäume gross werden.» Der Wald müsse sich natürlich entwickeln können, und genau das tue er hier.
Ein zweiter Grund, warum die Forstleute nicht zur Motorsäge greifen, ist ein ästhetischer. «Es wäre schlicht schade um die schönen Kirschbäume, die dort aufgekommen sind», sagt Matthias Ott. Die Kirschbäume, die nun im Sichtfeld stehen, prägen das Waldbild mit ihren hellen Stämmen und der Blüte im Frühling auf besondere Weise. Sie sind ein Beispiel dafür, wie der Wald sich selbst erneuert und verändert – und dabei manchmal auch das menschliche Bedürfnis nach Fernsicht überlagert.
Der Wald lebt von Veränderung
Einige Jahre lang hatte der Forstbetrieb versucht, die Aussicht durch gezielte Pflege der Randbäume offen zu halten. «Man hat da einen gewissen Spielraum», erklärt der Oberförster. «Eine besonders starke Pflege oder eine eher frühe Nutzung der Randbäume gilt noch nicht als Niederhaltung.» Auf diese Weise blieb die schöne Sicht während vieler Jahre erhalten. Doch inzwischen ist dieser Spielraum ausgeschöpft. «Als Nächstes müssten ein paar sehr schöne Kirschbäume weichen – und das wäre waldbaulich und forstrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen.»
Damit ist die Entscheidung gefallen: Die Natur bekommt Vorrang. Und sie macht deutlich, dass der Wald kein statisches Gebilde ist, sondern ein lebendiges System im Wandel. «Der Wald verändert sich ständig», so Matthias Ott. «Heute wächst eine Aussicht zu, morgen entsteht vielleicht an einer anderen Stelle eine neue.» Ob durch Sturm, Borkenkäfer oder forstliche Nutzung – immer wieder öffnen sich neue Perspektiven, während alte verschwinden.
Wer also heute im Lütisbuech unterwegs ist, muss auf den Anblick des Säntis verzichten. Dafür bietet sich ein anderes Schauspiel: Das leise Rascheln der Blätter, das Spiel von Licht und Schatten im Laub, die Vielfalt der Baumarten, die den Standort erobert haben. Und wer genau hinsieht, erkennt vielleicht, dass der Wald selbst die eigentliche Attraktion ist – nicht der Blick über ihn hinweg.
Für all jene, die trotzdem noch ein Stück Weitsicht suchen, hat der Stadtoberförster einen Tipp: «Ein Spaziergang zum Esterliturm lohnt sich immer. Von dort aus sieht man weit über das Seetal, den Jura und bei klarem Wetter bis in die Alpen. Und der Weg dorthin führt übrigens auch durch schönen Wald.»
So bleibt die «Vue des Arbres» ein stilles Beispiel dafür, wie die Natur sich ihren Raum nimmt – und wie der Mensch gut beraten ist, manchmal einfach zuzuschauen. Die Bank am Waldrand steht noch immer da, ein wenig im Schatten der Kirschbäume. Wer sich hinsetzt, mag keine Gipfel mehr sehen, dafür aber das, was den Wald ausmacht: Leben, Wandel und die leise Poesie des Wachsens.









