Tipp zum Alltag: Wo sind die Tugenden geblieben?
Tugenden sind wie eine mentale Strassenverkehrsordnung. Sie geben uns Hinweise, wie wir uns auf den Wegen unseres Lebens verhalten sollen. Die Tugenden gehören zu den grossen Erkenntnissen der Menschheit. In jeder Religion und Kultur finden sich Tugenden. Spannend dabei ist, dass sich die Inhalte kaum unterscheiden.
In der abendländischen Philosophie unterscheiden wir zwischen vier Kardinaltugenden. Der Begriff hat nichts mit Kardinälen zu tun, sondern kommt vom lateinischen «cardo», die Türangel.
Es handelt sich also um die wichtigsten, die Grundtugenden: Als erste wird die Weisheit oder Klugheit genannt. Wer klug ist, übernimmt quasi die anderen Tugenden automatisch.
Die zweite Tugend ist die Tapferkeit. Da wir heute nur noch wenig Ritterliches vorfinden, kann man die Tapferkeit heute mit Autonomie übersetzen. Ich muss nicht zum Wohlgefallen anderer mit den Wölfen heulen, sondern ich handle nach einem Gewissen, auch wenn ich unter Umständen damit ganz allein dastehe.
Die dritte Kardinaltugend ist die Gerechtigkeit. Sie ist wichtig, weil sie mich zu solidarischem Handeln ermutigt. Gerechtigkeit meint nicht, dass wir alle gleich sein müssen. Aber sie sagt aus, dass wir niemanden ungerecht behandeln sollen.
Die vierte Grundtugend ist die Mässigung oder auch das Mass. Sie ist zu meiner Lieblingstugend geworden. Sie zeigt uns Mittelwege auf. Es geht um Selbstbeherrschung als Mittelweg zwischen Sexsucht und Stumpfheit, Verschwendung und Geiz, Tollkühnheit und Feigheit.
Unser Schweizer Ahne Theophrastus Bombast von Hohenheim, geläufig als Paracelsus bekannt, sagte bereits im 16. Jahrhundert: «Allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.» So helfen uns die Kardinaltugenden durchs Leben.
«Tipp zum Alltag». Hier schreiben Jörg Kyburz und Volker Schulte jeweils in der letzten Ausgabe des Monats über psychologische Aspekte im Alltag. Die beiden Autoren leiten den CAS-Studienlehrgang Achtsamkeit in Lenzburg.