Tipp zum Alltag: Die falsche Wand

Mit etwas Glück und Verstand werden die Menschen im Alter weiser und milder. In unserer ersten Lebenshälfte geht es hauptsächlich darum, erfolgreich zu überleben. Wir sind mehr damit beschäftigt, «durchzukommen» oder es nach oben zu schaffen. Einen guten Job finden mit sicherem Lohn, Karriere machen, Familie gründen und sich hocharbeiten. Dies ist ein typischer Lebensweg.
Die eigene soziale Sicherheit, sich selbst behaupten können in einer feindlichen Umgebung und die eigene sexuelle Entwicklung stehen im Mittelpunkt unserer Lebensentwürfe. Solange wir jung sind, definieren wir uns, indem wir uns abgrenzen.
Später, in der reiferen zweiten Lebenshälfte, suchen wir nach den Dingen, die wir alle gemein haben und miteinander teilen können. Wir suchen das Glück in der Gleichheit und haben es nicht mehr nötig, bei den Unterschieden zwischen Menschen zu verweilen oder die Probleme zu übertreiben. Dramen zu schaffen, ist langweilig geworden.
Der amerikanische Mönch Thomas Merton stellte fest, dass wir unser ganzes Leben damit verbringen können, die Sprossen der Erfolgsleiter emporzuklimmen, nur um oben angekommen festzustellen, dass unsere Leiter an der falschen Wand lehnt.
Wenn wir älter werden, erkennen wir, wie wichtig Gemeinschaft ist, wie gut es tut, die Ellbogen nicht mehr einzusetzen. Vor allem lernen wir, dass uns Misserfolge reifen lassen. Einschneidende Erlebnisse, die wir unter Umständen durchleiden müssen, bringen uns wichtige Lebenserkenntnisse. Nicht die Erfolge.
Unter «Tipp zum Alltag» schreiben Jörg Kyburz und Volker Schulte jeweils in der letzten Ausgabe des Monats an dieser Stelle über psychologische Aspekte im Alltag. Die beiden Autoren leiten den CAS-Studienlehrgang Achtsamkeit in Lenzburg.