Tipp zum Alltag: Alles wirkliche Leben ist Begegnung, Teil 3
Rupperswil, 7 Uhr 55. Ich bin mit dem Auto unterwegs, um einen Freund abzuholen. Bärenkreuzung: Am linken Strassenrand warten drei Kinder am Zebrastreifen. Ich halte an und vergewissere mich, dass aus keiner anderen Richtung ein Fahrzeug naht. Ich gebe den drei Kindern ein Handzeichen, dass sie die Strasse überqueren können. Sie sind wohl auf dem Weg zur Schule, wie ich annehme. Wie alt mögen sie sein? Acht, neun Jahre alt vielleicht. Das eine Mädchen erscheint mir etwas älter. Oder ist sie nur grösser?
Der Zebrastreifen ist durch eine Verkehrsinsel unterbrochen. Die drei Kinder überqueren auch diese und laufen jetzt unmittelbar an meinem Auto vorbei. Alle drei lächeln freundlich – und tatsächlich: Alle drei heben ihre Hände zum Dank; eine Geste, die ich sehr zu schätzen weiss, die mich immer wieder rührt – und die ich selbstverständlich gern erwidere.
In diesem Moment dreht sich das ältere Mädchen, schon fast auf der anderen Strassenseite angekommen, noch einmal nach mir um, legt ihre Hände nach Art der Lotosblüte aneinander und senkt mit anmutigem Nicken ihren Kopf. Namasté: «Ich grüsse das Göttliche in dir.» Ich lege meine Hände in gleicher Weise aneinander und senke meinen Kopf: «Und ich grüsse das Göttliche in dir.»
Mag sein, dass ich zuweilen «nahe am Wasser gebaut bin», jedenfalls füllen sich meine Augen mit Tränen. Jeden Morgen beginne ich meine Meditation mit diesem Handzeichen, und jeden Morgen beende ich mein Gebet mit dem starken Symbol dieser wunderschönen Blüte, die aus Schlamm und Dreck gewachsen ist. Ich bete zu einem Gott, von dem ich glaube, dass er nicht (mehr) existiert oder die Erde bereits verlassen hat. Warum genau ich das tue, weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass tägliche Meditation und tägliches Gebet meiner Seele guttun.
Ich bin dankbar dafür, dass es offensichtlich noch Eltern gibt, die ihre Kinder in einer wie auch immer ausformulierten spirituellen Weise aufwachsen lassen. Kinder auf dem Weg zur Schule. Ich wünschte mir, auf die Frage «Wo geh’n wir denn hin?» wie Novalis antworten zu können: «Immer nach Hause.»
«Tipp zum Alltag». Hier schreiben Dozenten des CAS-Studienlehrgangs Achtsamkeit in Lenzburg jeweils in der letzten Ausgabe des Monats über psychologische Aspekte im Alltag. Die Autoren Horst Hablitz, Thomas Jenelten, Jörg Kyburz und Volker Schulte wechseln sich ab.