Tipp zum Alltag: Alles wirkliche Leben ist Begegnung, Teil 2
Vor ein paar Monaten habe ich an dieser Stelle eine Alltagsgeschichte aus dem Supermarkt erzählt. Haben Sie Lust auf eine weitere?
Und die geht so: Ich stehe mit vollem Einkaufswagen vor einer Kasse im Supermarkt. Ein grünes Licht zeigt an, dass sie «offen» sei und man seine Ware aufs Band legen könne. Aber es ist keine Kassiererin da. Die Kunden vor mir sind unsicher, was sie tun sollen, ihre Ware auflegen oder sich eine andere offene Kasse suchen.
Ich reagiere unwirsch und frage die Leute, die vor mir in der Reihe stehen, ob niemand seine Waren auflegen wolle. Eine Frau in meinem Alter fragt mich: «Sind Sie in Eile?» (Pause!) Es ist nicht das, WAS sie fragt, was mich komplett auf dem linken Bein erwischt, sondern WIE sie es fragt; nämlich in keiner Weise aufgebracht, angriffig oder schnippisch. Die Frau hat schöne Augen, aus denen eine sehr eigentümliche Mischung aus Weisheit, Gelassenheit und einer gehörigen Portion Schlitzohrigkeit strahlt.
Mir verschlägt’s die Sprache (was bei mir etwas heissen will!). Die Frage trifft mich im Innersten, und ehrlich und ein bisschen kleinlaut antworte ich nach gefühlten zwei Minuten: «Nein, eigentlich nicht.» «Versuchen Sie es doch mal mit etwas Yoga oder Meditation am Morgen.» Da sind sie wieder, diese Augen: ruhig, gütig, schlitzohrig. Diese Mischung! «Hab ich doch schon gemacht ...», gebe ich kleinstlaut noch von mir. Dann legt die Frau ihre Ware aufs Band. Die Frau zahlt, und zum Abschied blickt sie mich noch einmal an – und lächelt mit ihren schönen Augen. Mein Tag ist gerettet.
Es sind diese kleinen Geschichten, die mich im «wirklichen Leben» halten; Begegnungen, die gänzlich unerwartet und daher überraschend als Geschenk daherkommen. Wenn man sie als solches zu erkennen vermag.
Mir kommt eine Gedichtzeile von Joachim Ringelnatz in den Sinn: «Und die reinste Liebe wird vergossen im Vorbei.» Wie schön ist das!
«Tipp zum Alltag». Hier schreiben Dozenten des CAS-Studienlehrgangs Achtsamkeit in Lenzburg jeweils in der letzten Ausgabe des Monats über psychologische Aspekte im Alltag. Die Autoren Horst Hablitz, Thomas Jenelten, Jörg Kyburz und Volker Schulte wechseln sich ab.