Mit dem Zug schneller durchs «Loch»
Zugreisen In weniger als zwei Stunden erreicht man ab nächstem Sommer von Lenzburg aus mit dem Zug die Tessiner Hauptstadt Bellinzona – mit nur einmaligem Umsteigen. Möglich macht dies eine Baustelle am Zugersee.
Eine Bahnfahrt Lenzburg–Bellinzona in nur 113 Minuten. Wovon der vom Nord-Süd-Verkehr um- und durchfahrene Kanton Aargau bisher nur träumen konnte, wird vom 9. Juni 2019 bis Ende 2020 Realität. Diese vorübergehende grosse Angebotsverbesserung ist der Totalsperrung der Strecke Zug–Walchwil–Arth-Goldau zu verdanken. Während dieser Bauzeit wird der Knoten Rotkreuz zum Abfahrtsportal Richtung Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat), Gotthard-Bergstrecke, dem Tessin und Italien aufgewertet.
Es ist so weit: Die im Jahr 1882 eröffnete Bahnlinie 653 von Aarau via Lenzburg und Wohlen nach Arth-Goldau mit der offiziellen Bezeichnung «aargauische Südbahn» wird ihrer eigentlichen Bestimmung mindestens vorübergehend gerecht.
Da ab Juni 2019 der gesamte Bahnverkehr Zürich–Tessin–Italien und retour über Rotkreuz verkehren und dort einen teilweise längeren Halt mit Spitzkehre einlegen wird, kann die Linie 653 endlich die Funktion als Gotthard- und Neat-Zubringer für den mittleren und südlichen Aargau übernehmen.
Dank dem Direktanschluss im Knoten Rotkreuz kommen die südwärts Reisenden zu einer deutlichen Reduktion an Reisezeit und Fahrtkosten sowie einem erhöhten Umsteigekomfort.
Gut 20 Minuten Zeitgewinn
Die Linie durchs Freiamt ist die schnellste Zufahrt von der Nordwestschweiz zur Neat und deren einzige durchgehend doppelspurige Zufahrt. Diese Tatsache wird von den SBB schon heute eifrig genutzt, indem sie viele Fernverkehrszüge Italien–Tessin–Zürich über diese Route umleiten, jedoch ohne jeglichen Halt im Kanton Aargau.
Die Strecke soll zwar auch 2019 noch nicht durch haltenden Schnellzugsverkehr bedient werden, wird ab Juni aber mit dem heutigen S26-Angebot in Rotkreuz die guten Anschlüsse Richtung Süden im Halbstundentakt zu den Stosszeiten herstellen. Zusätzlich werden die S26-Züge zwischen Aarau und Lenzburg neu nonstop verkehren, was weitere 4 Minuten Fahrzeitgewinn bringt. Konkret heisst dies, dass ab Lenzburg zur Minute .02 anstelle von .31 und .34 anstelle von .00 abgefahren werden kann.
Aargau für einmal Hauptprofiteur
Für viele Fahrten aus dem Kanton Aargau wird sich die Anzahl Umsteigevorgänge verringern, da nur noch in Rotkreuz umgestiegen werden muss – Arth-Goldau fällt in den meisten Fällen weg. Die heute beträchtlichen Umwege über Zürich oder Olten–Luzern sind nicht mehr nötig, was auch das Portemonnaie zu spüren bekommt. So kostet das Retourbillett Aarau–Tessin/Italien via Freiamt pro erwachsene Person satte 26 Franken weniger als über Zürich.
Reisende in den Kanton Schwyz erhalten in Rotkreuz ebenfalls schlanke Anschlüsse auf eine neu verkehrende S2 Rotkreuz–Brunnen.
Der Aargau, dessen Befürworter der damaligen Bahn-2000-Volksabstimmung immer noch auf einige der im Vorfeld dieser Abstimmung angepriesenen Verheissungen warten, darf sich bei dieser Zugersee-Ost-Sperre für einmal zu den Hauptgewinnern zählen.
Der bevölkerungsmässig viertgrösste Kanton der Schweiz mit seiner führenden wirtschaftlichen Bedeutung, vom SBB-Fernverkehr aber doch stark zum Durchfahrtskanton zwischen den von ihm selbst gesetzten und hochgezüchteten Knoten Zürich und Olten erniedrigt, kann sich vorübergehend eine fette Scheibe bezüglich Angebotsverbesserung im Nord-Süd-Verkehr abschneiden.
Neue Rolle für Rotkreuz
Der Bahnhof Rotkreuz wird ab nächstem Juni bis Ende 2020 eine komplett neue Bedeutung erhalten. Der Kreuzungspunkt an der Achse Aarau–Arth-Goldau und der Linie Zürich–Luzern bekommt den Status des Hubs für einen namhaften Teil der Gotthard-, Tessin- und Italienreisenden.
Hier werden sämtliche Züge, die von Zürich über Zug nach Arth-Goldau und weiter verkehren, eine Spitzkehre, verbunden mit einem fünf- bis zehnminütigen Aufenthalt, einlegen. Ob die IC-Züge, welche an Samstagen und Sonntagen von Zürich via Freiamt nach Arth-Goldau verkehren werden, auch in Rotkreuz anhalten, ist Gegenstand von hängigen Forderungen an die SBB. In jedem Fall jedoch darf sich Rotkreuz zum neuen Umsteigeknoten für die südwärts Reisenden des gesamten Mittel- und Südaargaus, des Luzerner Ron- und Seetals wie auch der Region Zug West gekürt sehen.
Anschlusslösung gefordert
Unter den genannten Umständen ist davon auszugehen, dass sich während der Zeit des «Hub Rotkreuz» das Passagierverhalten und die Reisewege namhaft verändern werden. Eine grosse Blütezeit für die frequenzmässig seit längerem «totgesagte» und komplett unattraktiv bediente Relation Rotkreuz–Arth-Goldau ist zu erwarten.
Sind die Anschlüsse in Arth-Goldau Richtung Süden schlank oder kann gar wie ab dem 9. Juni 2019 von Rotkreuz aus umsteigefrei zum Gotthard und weiter gefahren werden, dürfte definitiv die Bestätigung erfolgen, dass das Potenzial aus den einwohnerreichen Zubringerräumen gross genug ist, um auch ab 2021 eine regelmässig verkehrende, attraktive Verbindung zwischen Rotkreuz und dem Süden aufrechtzuerhalten.
Wie sich die Fahrgastzahlen auf dieser Strecke ab kommendem Juni im Vergleich zu heute entwickeln, wird mit Hilfe eines speziellen Monitorings von Seiten der SBB beobachtet. Steigen die Zahlen erkennbar an, so drängt sich ab 2021, wenn die Zürcher Gotthardzüge wieder via Walchwil verkehren, zwingend eine attraktive Anschlusslösung für Reisende ab dem Aargau und der Grossregion Rotkreuz-Rontal auf.
Passagiere bestimmen Zukunft
Dank der Zugersee-Ost-Sperrung ergibt sich für grosse Teile des Aargaus, die angrenzenden Luzerner Täler sowie für die stark aufstrebende Region Zug West eine Gelegenheit, zu beweisen, dass deren Bewohner sehr wohl mit der Bahn in den Süden fahren, sofern denn ein interessantes Angebot vorliegt. Dieses attraktive Angebot für die genannten Räume existiert bis heute nicht.
Mit dem neuen Angebot kann aber realistischerweise damit gerechnet werden, dass sich die Bahnfahrenden rasch an die Vorzüge der Direktverbindung über die schnelle und komfortable Zugersee-West-Linie gewöhnen werden und keine mühsamen und kostspieligen Umwege mehr fahren wollen.
Wie die Anschlusslösung aussehen wird, hängt entscheidend davon ab, wie stark Familien, Schulen und Vereine ab dem 9. Juni 2019 das neue, tolle Angebot nutzen.
Reto Widmer ist Strategiebeauftragter der öV-Kommission der Freiämter Regionalplanungsgruppen.