Der Bedarf an Pflegeeltern wächst
Pflegefamilien Sind Eltern sehr krank, mit der Erziehung stark überfordert oder gewalttätig, können ihre Kinder in Pflegefamilien aufgenommen werden. Doch die Nachfrage übersteigt die Zahl der freien Plätze bei Weitem. Und der Bedarf wächst.
Immer wieder kommt es in Familien zu Situationen, in denen Eltern ihre erzieherischen Aufgaben nicht wahrnehmen können und ihren Kindern nicht das bieten können, was sie für eine gesunde Entwicklung brauchen. Eine Pflegefamilie bedeutet für viele Kinder eine neue Chance – für kurze Zeit oder auch bis zur Selbstständigkeit.
In akuten Krisen benötigen Kinder und Jugendliche schnellstmöglich einen Ort, an dem sie Geborgenheit und Sicherheit erfahren und Abstand zu den Turbulenzen zuhause gewinnen können. «Obwohl mehr in Prävention und ambulante Hilfen investiert wird, steigt die Zahl der Kindesschutzfälle und damit auch die Unterbringungen in Pflegefamilien an», weiss Karin Gerber, Stellenleiterin Fachstelle Pflegekind Aargau, und ergänzt: ««Es braucht mehr Pflegefamilien, um den Bedarf im Kanton zu decken.»
Pflegeeltern sind Mangelware
Gute Pflegeeltern zu finden, ist schwierig geworden. Woran liegts? Zum einen sei der Bedarf gestiegen, sagt Gerber. Zum anderen seien immer häufiger beide Elternteile berufstätig. Jemand, der zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert, hat eher die Flexibilität, ein Pflegekind aufzunehmen.
Klar ist: Auch wenn es eine schöne und sinnvolle Aufgabe ist, die auch entschädigt wird: Pflegeeltern zu werden und ein Kind auf seinem Lebensweg zu begleiten, ist mit einem grossen Aufwand verbunden. Den Mangel an Pflegefamilien führt Gerber unter anderem darauf zurück, dass Interessenten die Anforderungen oft zu hoch und die Umstände zu ungünstig erscheinen: «Wir haben jährlich rund 60 Anfragen von Menschen, die ein Interesse bekunden. Viele davon machen dann aber nicht weiter. Unser Aufnahmeprozedere ist sehr differenziert und dauert eine gewisse Zeit. Dies schreckt einige ab, aber damit wollen wir sicherstellen, dass die Pflegefamilie weiss, welche Aufgaben auf sie zukommen werden. Wir möchten möglichst Abbrüche verhindern.»
Um Pflegefamilien zu finden, setzt die Fachstelle auf Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und Infoabende. Dabei werden nicht nur Eltern gesucht, die ein Kind langfristig bei sich aufnehmen, sondern auch sogenannte Entlastungseltern. Das sind Eltern, die ein Kind für eine gewisse Zeit, zum Beispiel jeweils übers Wochenende oder während der Ferien, aufnehmen. So sollen die richtigen Eltern Zeit bekommen, sich zu erholen und Kraft zu tanken, um den Alltag wieder meistern zu können.
Darüber hinaus gibt es auch Notfallplatzierungen, etwa, wenn ein Kind in der Herkunftsfamilie unmittelbar gefährdet ist und ausserfamiliär untergebracht werden muss. «Meist wünschen sich Pflegeeltern ein Kind für die Langzeitpflege. Das bedeutet, das Kind bleibt bis zur Volljährigkeit oder auch darüber hinaus in der Familie», so Gerber. Mit guter Information könne aber auch das Interesse für die anderen Betreuungsformen geweckt werden. Gerade beim Entlastungsaufenthalt sei die Hürde, ein Kind nur an wenigen Tagen aufzunehmen, nicht ganz so hoch. Und: Wenn sich eine Familie dafür entscheidet und zum Schluss kommt, dass das eine schöne und wichtige Aufgabe ist, nimmt sie vielleicht auch jemanden langfristig auf.
Rund 5000 Kinder in Pflegefamilien
In der Schweiz leben schätzungsweise 5000 Kinder in Pflegefamilien. Genaue Zahlen, wie viele Kinder und Jugendliche sich in der Schweiz in Pflegefamilien aufhalten, gibt es keine. Somit gibt es auch keine konkreten Zahlen für den Kanton Aargau.
Aber: Das Departement Bildung, Kultur und Sport (BKS) erhebt jedes Jahr die Zahlen und Daten der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen, welche über eine DAF (Dienstleistungsanbieter in der Familienpflege) laufen. Die Zahlen für das Jahr 2022 werden erst Ende Jahr herausgegeben, die Berichterstattung für 2021 zeigt aber, dass sich per Ende 2021 238 Kinder und Jugendliche im Aargau in Pflegefamilien befanden (platziert über das DAF), informiert Ursula Heimgartner von der Fachstelle Pflegekind Aargau. 2022 dürfte die Zahl tendenziell höher ausfallen.
Aufgabe von Pflegefamilien
Können Eltern ihre Erziehungsaufgaben selbst mit intensiver ambulanter Unterstützung über längere Zeit oder auf Dauer nicht zum Wohle des Kindes erfüllen, kann das Kind bei einer Vollzeitpflegefamilie ein weiteres Zuhause finden. Kinder oder Jugendliche, welche nicht bei ihren Eltern aufwachsen können, haben in der Regel bereits schwierige Erfahrungen gemacht, welche sich durch besondere Verhaltensweisen zeigen können. Pflegefamilien bieten Fürsorge, Geborgenheit, Unterstützung und Förderung und dadurch auch Möglichkeiten für Veränderungen und Persönlichkeitsentwicklung.
Für die Kinder bleiben die Eltern in der Regel weiterhin wichtige Bezugspersonen. «Rund 80 Prozent der Kinder sind traumatisiert. Zum Glück sind viele Kinder resilient, das heisst, sie verfügen über genügend Widerstandskraft, um ihr Leben mit der notwendigen Unterstützung meistern zu können», so Gerber.
Mehrmonatiges Aufnahmeprozedere
Grundsätzlich können sowohl alleinstehende Personen, gleichgeschlechtliche oder auch unverheiratete Paare Pflegeeltern werden. «Im Grunde kann jede Person unter 45 Jahren ein Kind zur Dauerpflege aufnehmen. Voraussetzung sind ein einwandfreier Leumund und gesicherte finanzielle Verhältnisse», so Gerber. Bekundet jemand Interesse, prüft die Fachstelle in mehreren Gesprächen, ob die Person für diese Aufgabe geeignet ist. Im nächsten Schritt besucht die Fachstelle die Interessenten zuhause und führt ein Abklärungsgespräch.
Im Anschluss bieten Seminartage einen geeigneten Rahmen, sich mit der neuen Rolle als Pflegeeltern vertraut zu machen, und die Möglichkeit, Motivation und Fähigkeiten sowie die Belastbarkeit des Familiensystems zu überprüfen. Im Anschluss daran nehmen die zukünftigen Pflegeeltern weitere Vertiefungsangebote aus den Themengebieten Trauma und Traumapädagogik, Biografiearbeit und Herkunft wahr.
Ist die Vorbereitung erfolgreich abgeschlossen, steht der Tätigkeit als Pflegeeltern nichts mehr im Weg. Gemäss kantonalen Vorgaben sind die Pflegeeltern dann vertraglich bei der Fachstelle Pflegekind Aargau angestellt und erhalten eine Arbeitsvereinbarung, wobei die Aufgaben in einem Pflichtenheft festgehalten werden. Für die Betreuung sowie Kost und Logis des Pflegekindes gibt es eine monatliche Vergütung samt Sozialleistungen nach den gesetzlichen Bestimmungen.
Den Familien muss klar sein, dass sie ein «Kind auf Zeit» zu sich nehmen. Nur ganz selten mündet eine Vollzeitpflege in eine Adoption. Es kann also sein, dass sich die Situation in der Herkunftsfamilie wieder stabilisiert und es dann nach sorgfältiger Prüfung zu einer Rückführung kommt. Dabei gehört die Auseinandersetzung mit der Herkunftsfamilie für die Pflegefamilie ohnehin zu den grössten Herausforderungen. «Es ist wichtig, dass die Herkunftsfamilie weiter eine Rolle spielt und sich die Pflegeeltern und leiblichen Eltern ‹riechen› können», erläutert Gerber.
So läuft eine Pflegeplatzierung ab
Den Beginn einer Pflegeunterbringung markiert in der Regel eine Anfrage, welche die Fachstelle von den Auftraggebenden (beispielsweise den Sozialdiensten) entgegennimmt. Danach kommt ein strukturierter Prozess in Gang: Die Fachstelle kontaktiert ein bis zwei Familien, die gut zum Kind passen könnten und bespricht die Abläufe, danach findet ein Erstgespräch mit allen Beteiligten statt. Erst in einem nächsten Schritt lernt das Kind die möglichen Pflegeeltern kennen. Sind die wichtigsten Fragen geklärt und schriftlich festgehalten, kann die Eingewöhnungsphase geplant werden. Ein aufwändiger Prozess für alle – aber: «Ist ein Kind erfolgreich untergebracht, hat sich die viele Arbeit gelohnt», so Gerber.
Pflegeeltern werden: Ob für Dauer-, Gast- oder SOS-Pflegeplätze. Mehr Informatione und Auskunft im Internet: www.pflegekind-ag.ch oder unter 056 500 30 12.