Das unterirdische Leben in Lenzburg

Asylwesen Wohin mit all den Flüchtlingen? Der Kanton Aargau hat hierfür eine ungewöhnliche Lösung gefunden: Bunker, die eigentlich für den Kriegs- oder Notfall da sind, werden zu Notunterkünften. Ein Besuch in der Asylunterkunft Lenzburg zeigt: Mit viel Engagement und Einsatz lässt sich aus der Not eine Tugend machen.

Keine Küche: Gekocht werden kann hier nicht – das Essen wird geliefert.Foto: Romi Schmid

Keine Küche: Gekocht werden kann hier nicht – das Essen wird geliefert.Foto: Romi Schmid

Das Zwischenfazit fällt positiv aus: Lutz Hahn, Kommunikationsleiter ORS Service AG, Zentrumsleiterin Zehra Kaplan und Reto Marthy vom Departement Gesundheit und Soziales.Foto: Romi Schmid

Das Zwischenfazit fällt positiv aus: Lutz Hahn, Kommunikationsleiter ORS Service AG, Zentrumsleiterin Zehra Kaplan und Reto Marthy vom Departement Gesundheit und Soziales.Foto: Romi Schmid

Privatsphäre: Mit Leintüchern werden provisorische Wände geschaffen.Foto: Romi Schmid

Privatsphäre: Mit Leintüchern werden provisorische Wände geschaffen.Foto: Romi Schmid

Zeitvertreib: Die Playstation bringt digitale Unterhaltung.Foto: Romi Schmid

Zeitvertreib: Die Playstation bringt digitale Unterhaltung.Foto: Romi Schmid

Freitagnachmittag. Der Himmel ist wolkenverhangen und grau. Drei Männer trotzen dem garstigen Wetter. Sie sitzen in einem abgetrennten Aussenbereich auf dem Berufsschulareal Lenzburg und geniessen die frische Luft – denn: In ihrem Zuhause auf Zeit, der unterirdischen Notunterkunft gleich unter ihren Füssen, gibt es die nicht.

Zu Beginn des letzten Jahres rief der Kanton Aargau die Notlage im Asylwesen aus. Seither wurden in Muri, Birmenstorf, Aarau, Lenzburg und kürzlich in Laufenburg unterirdische Notunterkünfte in Betrieb genommen. «Aus unserer Sicht ist der Start gut verlaufen. Mit der Zentrumsleiterin Zehra Kaplan konnte eine erfahrene und von Anfang an bei allen Bewohnern akzeptierte Führungsperson gewonnen werden», sagt Lutz Hahn, Kommunikationsleiter der ORS Service AG, die für die 24/7-Betreunung zuständig ist.

Unterkunft fast voll ausgelastet

Aktuell sind 120 von 128 verfügbaren Plätzen belegt. Als äusserte Reserve könnten noch 34 Notplätze hergerichtet werden. Trotzdem: Von aussen würde man nicht denken, dass sich hier eine Asylunterkunft befindet. Über eine Rampe – es sieht ein bisschen aus wie die Einfahrt in eine Tiefgarage – geht es runter in den Bunker. Dort teilen sich 120 asylsuchende Männer die Räumlichkeiten auf engstem Raum. Die Bewohner kommen aus allen möglichen Ecken der Welt. Die meisten aus Afghanistan, der Türkei, der Ukraine und aus Syrien.

Der Aufenthaltsstatus der Bewohnenden ist ebenso unterschiedlich wie ihre Nationalitäten: Sie reichen von F (vorläufig Aufgenommenen) über N (Person im Asylverfahren), NEE (Nichteintretensentscheid) und S (Schutzstatus) bis zur B-Bewilligung (Berechtigung zum längerfristigen Aufenthalt). Familien leben hier keine. Anders in der Region Fricktal: In der fünften unterirdischen Unterkunft für Geflüchtete des Kantons Aargau sind seit Mitte Februar Familien untergebracht.

Wenig Privatsphäre

Trotz Lüftung ist die Luft hier unten dick, das künstliche Licht ist gnadenlos. Regnet es draussen, scheint die Sonne? Die fensterlosen Räume lassen diese Frage unbeantwortet.

Die Räumlichkeiten sind eng, die Schlafsäle haben keine Türen. Die Männer schlafen eng beieinander, akustisch trennt sie nichts voneinander. Um Privatsphäre zu schaffen, hängen einige Leintücher um ihr Bett – so entsteht zumindest provisorisch ein geschlossener Raum. Küche gibt es keine, dafür Gemeinschaftsräume mit Fernsehern und Spielkonsolen, einen grossen Töggelikasten und natürlich Sanitäreinrichtungen. «Wünschenswert wäre auch das eine oder andere Fitnessgerät, das an die Unterkunft gespendet werden könnte und den Männern eine weitere Beschäftigungsmöglichkeit bieten würde», so Lutz Hahn.

Der Alltag ist bestimmt von Warten

Seit Dezember werden in der Notunterkunft in Lenzburg Flüchtlinge untergebracht. Mal mehr, mal weniger – die Fluktuation ist gross. «Alle warten darauf, anderswo – oberirdisch – untergebracht zu werden», weiss Zehra Kaplan. Die 33-Jährige leitet die Asylunterkunft in Lenzburg im Auftrag der ORS Service AG.

Sie selbst ist vor rund 30 Jahren aus einem Kriegsgebiet geflüchtet und weiss aus eigener Erfahrung, wie sich das Leben in einer Asylunterkunft anfühlt. «Ich kann mich deshalb gut mit den Flüchtlingen identifizieren, und sie wissen und merken, dass ich sie verstehe und ernst nehme», sagt sie, «sie wissen, dass die unterirdische Unterbringung nicht ewig dauert, und akzeptieren die Situation grossmehrheitlich.»

Schwarztee hui, Früchtetee pfui

Das Zusammenleben unter der Erde läuft – trotz engsten Platzverhältnissen – rücksichtsvoll und reibungslos ab. «Abgesehen von kleineren Bagatellfällen läuft der Betrieb sehr ruhig», so Zehra Kaplan, «wir sind erste Ansprechperson für die unterschiedlichsten Dinge im Alltag. Hier wollen wir keine Fehler machen und möglichst auf alle Anliegen eingehen können. Die unterschiedlichen Sprachkenntnisse im Team helfen, bei Krisen schnell deeskalierend einzugreifen.»

Einzig die Verpflegung durch ein externes Cateringunternehmen führe immer wieder mal zu Diskussionen. Zudem habe man beispielsweise gelernt, dass Schwarztee geschätzt wird, aber Hagebutten- oder Früchtetee keinen Anklang findet.

Aussenbereich wird rege genutzt

Die Frage nach einem Transfer in eine eigene Wohnung werde regelmässig gestellt. «Die verschärfte Situation auf dem kommunalen Wohnungsmarkt fordert die kantonalen Behörden. Es wird dringend Wohnraum gesucht», weiss Lutz Hahn. Immerhin gibt es ausserhalb des Bunkers einen überdachten Aussenbereich für die Flüchtlinge. Ebenfalls dazu gehört eine grosse Wiese, hier soll im Frühling ein grosses Fussballturnier mit den Flüchtlingen und mit interessierten und sportbegeisterten Anwohnern stattfinden. «Wir sind überzeugt, dass die Integration weiter gefördert werden kann. Die Begegnung mit der Nachbarschaft kann Vorurteile abbauen helfen und das Miteinander stärken», so Lutz Hahn.

Neben dem Fussballspielen – ob draussen auf der Wiese oder unten am Töggelikasten – besuchen die Männer fleissig Deutschkurse. «Die vom Kanton vermittelten Deutschkurse sind begehrt. Aktuell reichen die Wartezeiten bis in den Sommer», so Lutz Hahn, «Wir sind froh, dass für rund 50 Männer eine Überbrückungslösung gefunden werden konnte, sie nehmen an Deutschkursen von Freiwilligen teil.»

Oft heisst es aber auch einfach: warten. Darauf, wie es weitergeht. Und darauf, ob es irgendwann einfacher wird, denn sie sind hier, aber ihre Herzen noch in der Heimat.

So werden Flüchtlinge in der Schweiz verteilt

Ankommende Flüchtlinge werden in Bundesasylzentren untergebracht. Dort wird idealerweise das Asylverfahren abgehandelt.

Dennoch kommen viele Personen im laufenden Verfahren in die Kantone. Beispielsweise, wenn weitere Abklärungen benötigt werden und noch kein Entscheid gefällt werden kann. Aktuell gibt es im Aargau knapp 1000 Personen mit einem «Ausweis N». Sie werden vom Kanton betreut und in kantonalen Unterkünften, wie jene in Lenzburg, untergebracht. Sobald sie Asyl erhalten, fallen sie im Aargau in die Zuständigkeit der Gemeinden.

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