«Ammerswil–Aarau retour»
Sie sehen nichts mehr und müssen selbstständig von A nach B. Wie schwierig das sein kann, können sich Sehende nur schlecht vorstellen. Der Lenzburger Bezirks-Anzeiger/Der Seetaler hat einen Sehbehinderten auf einer Reise von Ammerswil nach Aarau und zurück begleitet.
Der Bus hält, zischend öffnen die Türen. Zielsicher bewegt sich der Mann mit schulterlangen Haaren, dunkler Brille und weissem Stock auf die vordere Tür zu. Arthur Freis aus Ammerswil ist seit drei Jahren sehbehindert, sein Sehvermögen beträgt laut Augenarzt-Attest gerade noch zwei Prozent. Das Restsehvermögen ermöglicht es ihm, lediglich noch stark kontrastreiche Farben zu sehen.
Wo sich die Bustür befindet, hat ihm nicht das Zischen verraten, sondern die geöffnete Tür. «Türen hört man», sagt er der skeptischen Journalistin. «Machen Sie mal die Augen zu», sagt Arthur Freis in Lenzburg angekommen, «und geben Sie mir die Hand.» Man steht vor dem roten Raiffeisenbankgebäude. Die Journalistin lässt sich vom Sehbehinderten führen. Und tatsächlich: Erst hört man nichts. Dann plötzlich: eine Säule, dann ein Zwischenraum, wieder eine Säule, ein Zwischenraum und schliesslich eine grosse Leere. Wir haben das Gebäude passiert und stehen auf offener Strasse. «Offene Strassen, Seitengassen, Gebäude und deren Beschaffenheit, das kann man alles hören, erklärt Arthur Freis. «Sogar ein Bild an der Wand.»
«Man ist viel auf Hilfe angewiesen»
Auch ohne Sehvermögen können blinde und sehbehinderte Menschen zwar einiges wahrnehmen, trotzdem ist es nicht einfach, sich in der Welt der Sehenden selbstständig zu bewegen. Oft ist Arthur Freis auf Hilfe angewiesen. Stehen beispielsweise verschiedene Zugkompositionen auf demselben Gleis, muss er fragen, um zu erfahren, welches die richtige ist. Auch der Touch Screen beim Billett-Automaten ist ein unüberwindbares Hindernis. Freis wählt eine Telefonnummer, die beim Automaten in taktilen Zahlen angegeben ist. Die Telefonistin der SBB sorgt dafür, dass nach wenigen Minuten das korrekte Ticket ausgespuckt wird.
Arthur Freis hat einen Blindenstock mit Kugel dran, mit dieser tastet er den Boden ab und kann auch leichte Unebenheiten ohne anzuecken erspüren. Er geht langsam, den Stock bewegt er hin und her. Immer wieder bewahrt dieser ihn haarscharf davor, mit Strassenschildern oder Werbetafeln zu kollidieren. Der weisse Stock ist nicht nur für Blinde ein wichtiges Hilfsmittel, um sich in ihrer Umgebung zurechtzu- finden, er macht auch Aussenstehende auf die sehbehinderte oder blinde Person aufmerksam. Besonders im Strassenverkehr ist das wichtig.
Lange verweilt Freis beim Zebrastreifen bei der Raiffeisenbank, bis er schliesslich zögerlich die Strasse überquert, der Autofahrer wartet geduldig. In solchen Situationen ist der 36-Jährige darauf angewiesen, dass Autofahrer auch wirklich anhalten. Denn ob sich ein fahrendes Auto nähert, ist für blinde und sehbehinderte Menschen rechtzeitig nicht abschätzbar. «Mir bleibt nichts anderes übrig, als auf die anderen und ihre Aufmerksamkeit zu vertrauen», sagt Freis.
Den Stock zu nutzen und sich Hilfe zu holen, hat Freis am Anfang viel Überwindung gekostet. Von einem Tag auf den anderen verlor er sein Augenlicht. «Als ich aufwachte, war alles dunkel», erinnert er sich. Das war vor drei Jahren. Der Arzt habe ihm erklärt, dass der Sehnerv zwar intakt sei, die Informationen jedoch im Gehirn nicht mehr richtig verarbeitet würden. «Wie schwierig es ist, sich ohne zu sehen zurechtzufinden, können sich die meisten gar nicht vorstellen.» Dinge wie die Kleiderwahl, Kochen, Briefpost erledigen, Rechnungen begleichen oder Einkaufen waren plötzlich im Alleingang kaum mehr lösbare Problemstellungen.
Erst vergangenes Jahr nutzte Arthur Freis erstmals einen Blindenstock. Zuvor hatte er sich in seinen vier Wänden verkrochen. «Das Gefühl, dass das Sehvermögen dann schon wieder kommt, hat mich blockiert und davon abgehalten, mich im Leben als Sehbehinderter einzurichten.» Dank seiner Frau hat er aus dem tiefen Loch, in das er nach der Erblindung gefallen war, wieder herausgefunden.
Vor rund drei Monaten meisterte Arthur Freis den Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Ammerswil nach Aarau zum Blindenbund erstmals selbstständig. Für ihn ein riesiger Schritt und ein grosses Erfolgserlebnis. Zuvor ist er den Weg unzählige Male in Begleitung seiner Frau gegangen. Dass er nun selbstständig nach Aarau gehen kann, verdankt er auch einer Schulung in Orientierung und Mobilität, die er beim Blindenbund absolvieren konnte, und den weissen Leitlinien am Boden. Die erspürbaren, sogenannten taktilen Linien an Bahnhöfen, Bushaltestellen und hin zu wichtigen Gebäuden ermöglichen es blinden und sehbehinderten Menschen, sich auch in anspruchsvollen Umgebungen zurechtzufinden.
Zielsicher durch die Menschenmenge
Auch auf dem Weg vom Bahnhof Aarau bis zum Blindenbund findet man die Linien. Dank ihnen bewegt sich Freis in der Unterführung in Aarau zielsicher durch die vielen Menschen hindurch. Nur einmal muss Arthur Freis anhalten, jemand hat sich mit Tasche und Handy am Ohr direkt auf der weissen Linie platziert, den Rücken gegen Freis gewandt. «Die Linie zieht Leute magisch an», sagt Freis und schmunzelt.
Menschenmengen und Baustellen machen Freis auf seinen Reisen am meisten zu schaffen. «Wenn es laut ist, nimmt mir das jede Sicht. Ich höre die Umgebung nicht mehr.» Beim Blindenbund angekommen ist Arthur Freis sichtlich erleichtert. «Geschafft.» Auch heute noch habe er vor einer Reise nach Aarau ein mulmiges Gefühl. Der Alleingang erfordert viel Konzentration und Energie. «Man muss sich gut vorbereiten.» Dass er früher sehen konnte, erleichtere es ihm zwar, sich als Sehbehinderter zurechtzufinden, die Erinnerung an das Sehen und wie einfach es vorher war, machen ihm im Alltag aber manchmal zu schaffen. «Wie gern würde ich wieder einmal eine Aussicht geniessen! Das vermisse ich sehr. Oder einen Ausflug ins Blaue unternehmen.» Noch kurz ein Foto, dann muss Arthur Freis los. «Mein Bus nach Ammerswil fährt um 17.08 Uhr.» Sein Ausflug nach Aarau war durchgeplant.