Tipp zum Alltag: Alles wirkliche Leben ist Begegnung, Teil 5
Lenzburg. Einer dieser unerträglich heissen Spätsommertage. Vor dem Einkaufszentrum. Bei den parkierten Einkaufswagen sitzt, nein, kauert ein Mensch in schmutzigen Kleidern, die Hände auf groteske Weise dem Himmel entgegengestreckt. Ein Bettler. Offensichtlich. Das Bild dieses Mannes weckt in mir alte ambivalente Emotionen: soll ich oder soll ich nicht? Ihm etwas Geld geben. Ich habe schon hunderte Male diesen inneren Kampf geführt, Argumente dafür und dagegen abgewogen, und fast immer hat die «Vernunft» gesiegt – und ich bin einfach weitergegangen: schliesslich finanziere ich keinen Alkoholiker.
Heute ist das anders; der Mann dauert mich, sein Anblick trifft mich unerwartet in meinem Innersten, und ich gehe die wenigen Schritte, die ich an ihm vorbeigegangen bin, zurück und lege ihm behutsam einige silberfarbige Münzen in die offenen Hände. Der Mann besitzt kaum noch die Kraft und Geistesgegenwart zu danken.
Auf dem Weg zu meinem Auto glaube ich mich von einem Mann beobachtet, der mit seiner kleinen Tochter die eingekauften Waren in sein Auto versorgt. Ich fühle mich plötzlich «ertappt» und wappne mich bereits gegen die Vorwürfe «Hören Sie auf damit!», «Das bringt doch nichts!» und «Das lockt doch nur weitere Bettler an!».
Ich gehe also vorsorglich in rhetorische Abwehr-Position, da höre ich den Mann zu seiner Tochter sagen: «Jetzt bring’ den Einkaufswagen wieder zurück; und den Franken gibst du dem Mann auf dem Boden.»
So sehr ich mich kurz darüber freue, vielleicht als «Vorbild» (grosses Wort) gedient zu haben, bin ich doch bald darauf beschämt, weil ich – trotz aller Einübung der Achtsamkeit – wieder einmal meiner Neigung erlegen bin, meine Mitmenschen vorschnell zu be- und zu verurteilen. Es braucht halt viel Übung. Ein Leben lang.
«Tipp zum Alltag». Hier schreiben Dozenten des CAS-Studienlehrgangs Achtsamkeit in Lenzburg jeweils in der letzten Ausgabe des Monats über psychologische Aspekte im Alltag. Die Autoren Horst Hablitz, Thomas Jenelten, Jörg Kyburz und Volker Schulte wechseln sich ab.