1918 war der Bezirk in Aufruhr
Lenzburg Vor 100 Jahren erschütterte der Landesstreik die Schweiz. Die schwerste politische Krise des Bundesstaates seit seiner Gründung 1848 betraf auch das eher beschauliche Lenzburg und Umgebung. Vor allem der Norden des Bezirks war betroffen.
Plötzlich war das Städtli voller Soldaten. Die Kavalleriebrigade 4 wurde am Mittwoch, 6. November 1918, in Lenzburg zusammengezogen. Die Stabsoffiziere nahmen im Hotel Löwen Quartier. Am 8. November dirigierten sie ihre Truppen zum Ordnungsdienst nach Zürich. Hier hatte die Arbeiterunion für Sonntag zu einer Protestveranstaltung aufgerufen.
Als die aufgebrachten Demonstrierenden mit den nervösen und forsch auftretenden Militärs zusammentrafen, fielen auf dem Fraumünsterplatz Schüsse. Bilanz: vier Verletzte und ein toter Milizsoldat. Just als der Weltkrieg sich zu Ende neigte, eskalierten die sozialen Spannungen. Es brodelte im Schweizerland und das nahe Zürich war das Epizentrum.
Angst vor einer Revolution
Drohte der Schweiz eine Revolution? Wohl kaum. Der Arbeiterschaft ging es um soziale Sicherheit und politische Teilhabe (vgl. Kasten «Die Forderungen der Streikenden»). Im Bürgertum herrschte dagegen, ein Jahr nachdem Lenins Partei der «Bolschewiki» in Russland die Regierung gestürzt hatte, Panik vor einer Revolutionierung ganz Europas.
Eindringlich warnte der Aargauer Regierungsrat die Kantonsbevölkerung, «eine von zweifelhaften ausländischen Elementen geschürte Bewegung» arbeite auf einen «gewaltsamen Umsturz alles Bestehenden hin».
Am 11. November liess der Bundesrat russische Diplomaten aus Bern an die deutsche Grenze eskortieren. Unter dem Vorwurf, revolutionäre Propaganda betrieben zu haben, wurde die «Sowjet-Mission» ausgewiesen. In der Nacht passierte der geheime Militärkonvoi den Bezirk Lenzburg.
Krisensitzung im «Central»
An demselben Abend traf sich im Restaurant Central vor dem Durchbruch zur Lenzburger Altstadt eine Delegation des Stadtrats mit den Spitzen der grösseren im Ort ansässigen Firmen und Verbände zu einer Krisensitzung.
Auf den 12. November 1918 hatte der Aktionsstab von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, das sogenannte Oltner Komitee, einen unbefristeten, landesweiten Generalstreik proklamiert.
Zwar hätten die Gemeindebehörden «alles getan, um unsere arbeitsliebende, ruhige Bevölkerung vor bolschewistischen Agitationen zu schirmen». Dennoch entschied man sich, im stillen Alarm die Feuerwehr zu mobilisieren. Noch in der Nacht bezogen die Männer ihre Posten vor Rathaus, Post und den beiden Bahnhöfen. Auch die «Hero» sowie die Kinderwagenfabrik «Wisa Gloria» wurden bewacht.
Am 12. November streikten in der Schweiz 250000 Menschen. Nicht nur in Zürich und Basel, sondern auch in Aarau, Brugg und Baden, sogar im ländlichen Seetal wurde teilweise die Arbeit niedergelegt. «Fabriken im Vollbetriebe», berichtete dagegen das Bezirksamt Lenzburg: «Keine Streikmeldungen bis anhin gemeldet.»
Streiks im Norden des Bezirks
Während es in der Stadt selbst auch am Folgetag ruhig blieb, befand sich der Norden des Bezirks in Aufruhr: «Am Mittwoch begann der Streik in sämtlichen Geschäften in Wildegg und Holderbank.» So wurde der Betrieb der Jura-Cement-Fabrik in Wildegg gemäss den Behörden «durch Demolierung der Transmissionen erzwungen». Auch über die Portlandcementfabrik in Holderbank wurde eine Sperre verhängt.
Als auch die Belegschaft der Schweizerischen Leinenindustrie in Niederlenz in den Streik trat, kam bei den Behörden Panik auf. Eiligst wurde die Entsendung von Ordnungstruppen erbeten.
Noch am Abend des 13. Novembers 1918 rückte eine Kompanie des Infanteriebataillons 45 im Bezirk Lenzburg ein. Die Freiämter Landsturmtruppen, die vom Lenzburger Stadtrat Jakob Fehlmann kommandiert wurden, bezogen Posten vor den bestreikten Betrieben in Holderbank, Wildegg und Niederlenz.
Gerüchte schossen ins Kraut: In Seon ging die Meldung ein, das Trassee der Seetalbahn sei von Saboteuren vermint worden. Die Belegschaft der «Hero» wurde während der Mittagspause eingesperrt, weil sich angeblich bei der Leinenweberei am Aabach «200 Bolschewiki» zum Sturm auf die Konservenfabrik vorbereiteten.
Dazu kam es freilich nicht: «Die ruhig und besonnen streikenden Arbeiter von Wildegg hatten scheints Besseres zu tun, als die Lenzburger aus ihrer Dummheit zu erlösen», spottete die sozialdemokratische Presse.
«Gegen revolutionäre Umtriebe»
Derweil rüstete der «Bürgerblock» weiter gegen die vermeintlich «von fremden Elementen in Bewegung gesetzten revolutionären Umtriebe». Eine vom lokalen Bauunternehmer Theodor Bertschinger präsidierte Versammlung verabschiedete im Hotel Krone feierlich eine Resolution an den Bundesrat, in der sie sich «dem Vaterlande zur Disposition» stellten. Im ganzen Kanton wurden Bürgerwehren ausgehoben, an deren Spitzen prominente Politiker, Beamte und Militärs standen. In Lenzburg waren dies Alfred Güntert, Bezirkslehrer und Instruktor des Kadettencorps, sowie der spätere Stadtammann Arnold Hirt.
Um einen drohenden Bürgerkrieg abzuwenden, beschloss die nationale Streikleitung, das Oltner Komitee, für den 15. November den Streikabbruch.
15 Prozent mehr in Niederlenz
Vorderhand waren Sozialdemokratie und Gewerkschaften mit ihren Anliegen gescheitert. Doch die Dynamik, die der Landesstreik ausgelöst hatte, hielt an. «Die Arbeiterschaft im reaktionären Bezirk Lenzburg» sei «erwacht», hielt das Parteiblatt «Neuer Freier Aargauer» fest.
Eine grosse Signalwirkung kam von der Belegschaft der Niederlenzer Leinenindustrie, die noch bis Anfang Dezember an ihren Forderungen gegenüber einer unerbittlichen Firmenleitung festhielt. Ihr Streik endete mit einem Sieg: 10 Prozent Lohnerhöhung und 5 Prozent Teuerungszulage konnte die Arbeiterschaft abringen.
In den folgenden Monaten wurde in der Kartonagenfabrik Langenbach, bei der Ferrum in Rupperswil und in den Wisa-Gloria-Werken – jeweils mit Erfolg – gestreikt.
Während auch rechtsbürgerliche Kreise weiter mobilisierten (vgl. Kasten «Der Schweizerische Vaterländische Verband»), bemühten sich andere Politiker um einen Brückenschlag und wollten den berechtigten Anliegen der Arbeiterschaft mit Reformen begegnen.
Erster «Sozi» im Stadtrat
Eine progressive Haltung nahm etwa der liberale Nationalrat und Lenzburger Vizeammann Arthur Widmer ein. Bereits Ende November appellierte er als Grossrat an den Aargauer Regierungsrat, das Frauenstimmrecht – eine zentrale Forderung der Streikenden, die erst 1971 umgesetzt werden sollte – einzuführen.
Ein Zeichen der Versöhnung setzten die Lenzburger Stimmbürger bei den Erneuerungswahlen für den Stadtrat im November 1919. Ein Jahr nach dem Landesstreik wählten sie mit dem Postbeamten Emil Stutz erstmals einen «Sozi» in die Exekutive.
Thomas Bürgisser ist Historiker und Journalist und in Lenzburg aufgewachsen.
Die Forderungen der Streikenden
Der Erste Weltkrieg stürzte auch in der Schweiz weite Bevölkerungskreise in Armut. Während die Arbeiterschaft mit Nahrungsmittelknappheit, Teuerung und Wohnungsnot zu kämpfen hatte, strichen manche Unternehmer durch die Kriegswirtschaft satte Gewinne ein.
Der Aktionsstab von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, das sogenannte Oltner Komitee, wollte mit dem Landesstreik von der bürgerlich dominierten Politik eine Sicherung der Lebensmittelversorgung, Massnahmen gegen die Teuerung, eine Reduktion der Arbeitszeit auf 48 Wochenstunden, die Einrichtung einer AHV sowie die Proporzwahl und das Frauenstimmrecht einfordern. (tbü)
Der Schweizerische Vaterländische Verband
Der Aargau spielte eine Schlüsselrolle bei der Institutionalisierung der während des Landesstreiks entstandenen Bürgerwehren. Am 24. November 1918 berief der rechtskonservative Arzt und Offizier Eugen Bircher einen «Volkstag» im Amphitheater Vindonissa ein. Gegen «sozialistische Umsturz-Versuche» wurde der Schweizerische Vaterländische Verband aus der Taufe gehoben, der sich fortan gegen jede Aussöhnung mit den Linken stellte. Heute besteht nur noch die ursprüngliche Aargauische Vaterländische Vereinigung. Sie wird von SVP-Nationalrat Andreas Glarner präsidiert. (tbü)