«Die Lenzburger haben ihre Häuser und ihre Herzen für uns geöffnet»
Ukraine-Flüchtlinge Der Krieg in der Ukraine hat das Leben von Millionen von Menschen radikal verändert. Rund 80000 Ukrainer sind seit Kriegsbeginn in die Schweiz geflüchtet. Davon haben 100 Flüchtlinge in Lenzburg ihre vorübergehende, einige vielleicht auch ihre neue Heimat gefunden.
Hätte Wladimir Putin am 24. Februar 2022 nicht die Ukraine angegriffen, sässe Mariana Tabarkevych jetzt wahrscheinlich in ihrem grosszügigen Büro im Herzen der 22000-Einwohner-Metropole Dolyna in der Westukraine, wo sie als Stellvertreterin des Bürgermeisters tätig war.
Blick zurück auf ein bewegtes Jahr
Kurz nach Kriegsbeginn flüchtete Mariana Tabarkevych mit ihren beiden Kindern in die Schweiz. Erst kamen die drei bei einer Gastfamilie in Möriken unter, wenig später konnten sie eine Wohnung in Lenzburg beziehen. Aber: Die eigenen vier eigenen Wände reichen nicht, um den Krieg zu vergessen. «Der Krieg ist omnipräsent. Der Kopf ist hier, aber das Herz in der Ukraine», so die zweifache Mutter. Tabarkevych spricht fliessend Deutsch: Die 41-Jährige hat deutsche Philologie und internationales Recht studiert. «Deutsch war für mich immer ein Hobby. Ich hätte nie gedacht, dass die Sprache mir einmal so nützlich werden würde», sagt sie. Aufgrund ihrer guten Deutschkenntnisse und ihrer Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Flüchtlingen arbeitet sie für den Sozialdienst Lenzburg, fungiert als Vermittlerin, Organisatorin und Dolmetscherin. «Ich bin sehr dankbar für diese Arbeit», sagt sie.
Die Ukrainerin ist eine von rund 100 Flüchtlingen, die seit Juni 2022 in Lenzburg untergebracht sind. Ein Grossteil der Geflüchteten lebt im ehemaligen Hotel Lenzburg, weitere in Gastfamilien. «Wir fühlen uns in Lenzburg wohl und spüren, dass die Menschen sehr gastfreundlich sind», fasst Tabarkevych zusammen. «Die vergangenen Monate waren schwer, aber es ist auch viel Positives passiert. Wir haben eine Unterkunft bekommen, besuchen Deutschkurse, erhalten Unterstützung bei der Jobsuche und die Kinder gehen zur Schule», erzählt sie, «die Hilfe und die Anteilnahme berühren uns sehr.»
Jobsuche ist eine Herausforderung
Trotzdem: Die Stimmung sei zurzeit gedrückt. «Die Situation in unserem Heimatland belastet uns sehr», erklärt sie. «Viele haben gedacht, dass sie Ende Jahr in die Ukraine zurückkehren können», so Tabarkevych, «doch die Mobilmachung in Russland hat diese Hoffnung zunichtegemacht.» Hinzu komme die leider bei vielen erfolglose Arbeitssuche: «Die Leute sind traurig. Viele sind gut qualifizierte Fachkräfte, etwa Ingenieure, Elektriker und Buchhalter – aber finden keine Arbeit. Es hagelt Absagen.»
Von den rund 80000 in der Schweiz registrierten ukrainischen Flüchtlingen sind gemäss dem Schweizerischen Arbeitgeberverband SAV rund 33000 im erwerbsfähigen Alter. Nach Angaben des Staatssekretariats für Migration gehen etwas mehr als zehn Prozent von ihnen einer Arbeit nach. Auch in Lenzburg hat eine Handvoll Ukrainer Arbeit gefunden, etwa in den Restaurants Krone und s’Bärli. «Jeder, der einen Job hat, ist dankbar. Wir möchten uns nützlich machen und unbedingt arbeiten», so Tabarkevych.
Sorgen bereite den Firmen oft das auf ein Jahr befristete Aufenthaltsrecht im Status S: «Die Arbeitgeber wollen Planungssicherheit. Bisher weiss niemand, ob unser Schutzstatus verlängert wird», sagt sie. Hinzu kommen die oft ungenügenden Sprachkenntnisse.
Langes Warten auf das Kriegsende
Viele der Geflüchteten halten täglich mit ihren Liebsten, die in der Heimat geblieben sind, Kontakt – und warten darauf, dass sie bald in ihre Heimat zurückkehren können. Auch Tabarkevych ist in ständigem Kontakt mit ihrer Mutter, die in der Ukraine geblieben ist. Dennoch: Zurückgehen möchte sie nicht – zumindest noch nicht. «Meine Kinder besuchen in Lenzburg die Schule, sind gut integriert. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in der Schweiz leben würde. Aber ich habe hier Fuss gefasst und möchte weiterhin helfen, wo ich kann», sagt sie.
Bei allen Sorgen und Problemen: Es gibt auch fröhliche Momente. Etwa, wenn alle zusammenkommen und feiern. Etwa im Dezember, als der Samichlaus plötzlich vor dem Hotel Lenzburg stand und den Kindern Geschenke brachte. «Das war toll, die Freude der Kinder hat alle angesteckt», so Tabarkevych.
Auch Weihnachten haben die Flüchtlinge im Hotel Lenzburg zusammen gefeiert. Nicht wie in der Ukraine üblich am 6. und 7. Januar, sondern wie in der Schweiz im Dezember. «2022 war sowieso alles anders. Wir wollten uns anpassen», sagt sie. Trotz den Feierlichkeiten: So richtig sei keine Weihnachtsstimmung aufgekommen, viele hätten geweint. «Es war ein schwieriges Jahr für uns», so Tabarkevych.
«Trotzdem: Die Lenzburger haben ihre Häuser und ihre Herzen für uns geöffnet. Jeden Tag danken wir den Menschen, die wir hier getroffen haben. Jeder versucht, uns so gut es geht zu helfen – sei es Unterkunft, Essen, Kleidung, Schuhe, Schule, Transport, ein Arzttermin oder anderes. Hier fühlen wir uns sicher. Wir spüren die Herzlichkeit der Lenzburger und die Unterstützung der Stadt.»
Für die Zukunft wünscht sich Tabarkevych ein schnelles Ende des Krieges – und dass alle wieder ein glückliches, unbeschwertes Leben führen; sei es hier oder zuhause.
Veranstaltungen im Januar/Februar. 17. Januar: «Dankes-Abend» für Lenzburger Gastfamilien. 24. Februar: «Mahnwache für den Frieden». Der Kriegsbeginn jährt sich.