Angst um ihre Liebsten raubt der Afghanin Khorshid den Schlaf
Lenzburg Die aktuelle Situation in Afghanistan ist für Khorshid und ihre Familie schwer zu ertragen. Ihre Eltern und drei ihrer Schwestern leben in Kabul. Nun hat Khorshid grosse Bedenken, ob sie ihre Familie je wieder einmal sieht.
Ich habe meine Eltern seit zehn Jahren nicht mehr gesehen», sagt Khorshid. Tränen kullern über ihre Wangen. Sie ist 2012 mit ihrem Mann und zwei älteren Schwestern aus Afghanistan über Pakistan, Iran, die Türkei, Griechenland und Italien in die Schweiz geflüchtet. Im sechsten Monat schwanger. «Ich sagte meinem Mann, dass ich in einem Land leben möchte, wo ich auch eine Perspektive habe», sagt die 30-Jährige. Ihre Eltern waren gegen diese Flucht. Und sie wollen auch jetzt, unter der neuen Herrschaft der Taliban, in Kabul bleiben. Es sei ihre Heimat, hier seien ihre Wurzeln.
«Ich habe noch drei jüngere Schwestern, die zwischen 18 und 25 Jahren alt sind. Eine hat bis zum Regierungswechsel Englisch unterrichtet, die andere, die Künstlerin ist, gab Malkurse. Das geht alles nicht mehr, von einem Tag auf den anderen», sagt Khorshid. Vor drei Jahren hat sie ihre Schwestern gefragt, ob sie nicht Kabul verlassen und in der Schweiz etwas aufbauen möchten. Sie verneinten. Sie betonten damals, dass sie sich dafür starkmachen wollen, dass im eigenen Land weitere Fortschritte zugunsten der Frauen möglich werden.
Sittenwidrig wird nicht geduldet
Beim letzten Telefonat mit ihrem Vater hat er Khorshid erzählt, dass ihre Haustüre seit ein paar Tagen mit einem Kreuz versehen sei. Was das genau bedeute, wisse er nicht. Vorsorglich hat er Khorshids Schwestern zu einem Onkel aufs Land geschickt. Ihr Vater befürchtet, dass diese Markierung darauf hinweisen könnte, dass drei ledige Frauen in diesem Haus wohnen. Zudem hat er miterlebt, wie einige Talibankämpfer ein Ehepaar drangsalierten. Der Frau, die mit engen Jeans und einem Tschador bekleidet war, rissen sie die Hosen vom Leib. Auch dem Mann nahmen sie die Hosen weg und zwangen seine Frau, sie anzuziehen. Offenbar wurde die Bekleidung als sittenwidrig empfunden.
Erster Schultag mit 13 Jahren
Wenn Khorshid solche Sachen hört, kommen traurige Erinnerungen hoch. «Wir durften als Kind nicht wirklich nach draussen und in die Schule durfte ich erst, als ich 13 Jahre alt war, die Taliban nicht mehr an der Macht waren», sagt sie. Ihr Vater wurde, als Khorshid drei Jahre alt war, von den Taliban angeschossen. «Seither kann er fast nicht mehr laufen und kann deshalb seinen Beruf als Schreiner nicht mehr ausüben. Bis vor Kurzem haben meine Schwestern die Familie unterstützt. Wie sie nun künftig die Miete zahlen können, weiss ich nicht», sagt die 30-Jährige.
Am Anfang war es nicht einfach
Khorshid ist froh und dankbar, mit ihrem Mann und beiden Kindern in Lenzburg leben zu dürfen. Auch wenn die erste Zeit sehr schwer gewesen war. Ihr erstes Kind kam in der Asylunterkunft zur Welt. Ihr Mann war damals noch in Griechenland, wartete auf eine Gelegenheit, seiner Frau nachzureisen. «Ich war ganz allein, meine Schwestern durften mich nicht besuchen. Das war hart.» Inzwischen hat Khorshid Deutsch gelernt und sich dank der Unterstützung von verschiedenen Menschen, darunter auch Margrit Müller aus Lenzburg, gut integriert und Arbeit gefunden. «Es tut gut, eine Beschäftigung zu haben, unter Leute zu kommen», sagt Khorshid, die auch bei Familie+ regelmässig Anlässe besucht und im Café mithilft.
Ihre beiden Kinder sind ebenfalls bestens integriert, sind in der zweiten und dritten Klasse. «Sie sprechen zu Hause untereinander schweizerdeutsch», sagt Khorshid lachend, «was weder mein Mann noch ich wirklich verstehen.» Aber natürlich können sie sich auch in Dari und Farsi ausdrücken.
Es war auch schon anders
Ihr Mann ist seit ein paar Monaten arbeitslos. Er hat die letzten Jahre bei Umzugsfirmen und im Gastrogewerbe gearbeitet – Branchen, die coronabedingt Mitarbeitende entlassen haben. «Inzwischen kocht und putzt er zuhause», sagt Khorshid schmunzelnd, was früher nicht vorstellbar gewesen wäre. Was auch kaum vorstellbar ist, ist die Tatsache, dass die Mutter von Khorshid als junge Frau in kurzen Röcken und ohne Kopftuch unterwegs war. «Damals war alles noch anders», sagt Khorshid. Sie fragt sich, ob sie ihre Familie und ihre Verwandten in Kabul je wiedersehen wird.