Fremd sein, ohne fremd zu sein
Staufen Nach turbulenten zehn Jahren Aufenthalt in Chinas Millionenmetropole Shanghai sind der Soziologe und Fotograf Matthias Messmer und seine Partnerin, die Kulturforscherin Hsin-Mei Chuang, 2014 nach Staufen gezogen.
In ihrem neuerschienenen Buch «Fremd sein, ohne fremd zu sein» verarbeiten die Weltenbummler ihre Eindrücke in Form literarischer Bildräume und erzählen in kunstvoll kontrastreichen Inszenierungen Geschichten vom Fremdsein.
Zitate aus dem Buch: «Die moderne Welt gibt vor, ein globales Dorf zu sein. Und dennoch sind wir noch immer mehrheitlich Fremde, fast überall auf der Welt.» Oder aber: «Die Sehnsucht, irgendwann anzukommen, ist zu einem allgegenwärtigen Phänomen unserer Zeit geworden.» Und: «Ob aus Privileg oder aus Not: Eine Reise auf der Suche nach Heimat ist immer begleitet vom Fremdsein, einem Gefühl voller Zweifel und Ängste.»
Mit diesen Worten führen die in Taiwan geborene Hsin-Mei Chuang und der St. Galler Matthias Messmer den Betrachter ihres neuen Bildbandes ein. Beide lebten knapp zehn Jahre in der Millionenmetropole Shanghai, bereisten die entlegensten Winkel Chinas sowie die Grenzregionen und sind Autoren mehrerer kunstvoll dokumentarischer Bildbände über China, die Menschen und deren Kultur im Land des grossen Drachen.
Seit 2014 leben Chuang und Messmer in Staufen. «Nach so langer Zeit in der chinesischen Grossstadt zog es uns aufs Land. Wir suchten etwas zwischen Zürich und Bern und fanden zufällig etwas in Staufen. Sogar für mich als Schweizer war es ein gewaltiger Sprung von Shanghai nach Staufen und eine Wohltat, die frische Luft atmen zu können», erzählt Messmer und ergänzt: «Wir haben noch nie auf dem Land gelebt. Wir stellten uns die Frage: Können wir das? Shanghai ist gross und vor allem anonym. Es war auf eine Art unbequem, zu gehen. Zum Abschied nach zehn Jahren wollten wir etwas Persönliches hinterlassen.»
Entstanden ist ein Bildband mit szenischen Fotografien aus Shanghai, aus dem Aargau und anderen Orten dieser Welt. Auf der Suche nach Identität und Zugehörigkeit tauchen Chuang und Messmer ein in die Welten von Figuren aus Romanen und Erzählungen von Oscar Wilde, Max Frisch, Hermann Hesse, Pai Hsien-Yung, Jonathan Swift, Doris Lessing, Anton Tschechow, Gottfried Keller oder Pankaj Mishra und verbinden Textpassagen mit feinsinnig taktilen Fotografien fremd anmutender Orte, deren Darstellungen Assoziationen wecken zu Figuren aus Romanen der Weltliteratur. Die Fotografien entstanden zwischen 2013 und 2018 und schlagen sichtbar werdende Brücken zwischen zwei scheinbar weit entfernten Welten.
«Geht man in die Fremde, hat man das Gefühl, sich nicht so verhalten zu können, wie man es gewohnt ist. Das ist mit Veränderung und Unsicherheit verbunden, die gewohnte Umgebung zu verlassen. In Shanghai kann man mit jedem auf der Strasse ein Gespräch beginnen. Oder mit dem Pyjama einkaufen gehen. Das würde niemand stören», lacht Chuang.
«Als wir dann in Staufen ankamen und die Rosen eines fremden Nachbarn bewunderten, kam dieser, schnitt sie ab und schenkte sie uns. Das ‹Fremdsein› ist nur ein Gefühl und es gehört wohl zum Menschsein. In diesem Punkt sind wir alle gleich».
Matthias Messmer und Hsin-Mei Chuang sind die Autoren der Bildbände China an seinen Grenzen: Erkundungen am Rand eines Weltreichs, Reclam 2019, China’s Vanishing Worlds: Countryside, Traditions and Cultural Spaces, MIT Press, 2013. Der neue Bildband Fremd sein ohne fremd zu sein mit Bildern aus Shanghai und dem Aargau, Till Schaap Edition 2021 ist auf Anfrage bei den Autoren erhältlich. www.duomamei.com oder hsmchuang@gmail.com.