Die Lenzburgerin und der Agentenmord in Lausanne

Nächste Woche jährt sich die weltweit beachtete Liquidierung eines abgesprungenen Sowjet-Agenten in Lausanne zum 80. Mal. Die Lenzburger Apothekertochter Renate Steiner war im Jahr 1937 naive Komplizin des russischen Mordkommandos.

Mietete das Auto für den Mord am ehemaligen Sowjet-Agenten: Die Lenzburger Apothekertochter Renate Steiner (1908–1986). Foto: zvg
Mietete das Auto für den Mord am ehemaligen Sowjet-Agenten: Die Lenzburger Apothekertochter Renate Steiner (1908–1986). Foto: zvg

Von der GPU, so ab 1922 die Abkürzung der Geheimpolizei der Sowjetunion, trennt man sich nicht folgenlos. Ignaz Reiss, führender Agent des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes, Einsatzgebiet französischsprachiger Raum, wagte im Sommer 1937 den Absprung. In einem tollkühnen Abschiedsbrief an Stalin gab er seiner Abscheu vor dessen brutalem Mordregime Ausdruck.

Mord am Genfersee

Nachdem Diktator Stalin seine Konkurrenten in spektakulären Schauprozessen als Verräter abgeurteilt hatte, trug er die Welle der Gewalt mitten in die Bevölkerung. Auch ihm treu ergebene Kommunisten und selbst seine Mordgesellen fielen den blutigen «Säuberungen» zum Opfer. Hunderttausende landeten in den Folterkellern der Geheimpolizei und wurden erschossen. Millionen «Volksfeinde» liess Stalin in den Gulag deportieren. 1937 ging als «Jahr des Terrors» in die sowjetischen Annalen ein.

Reiss suchte mit seiner Familie unter einem falschen Namen in den Walliser Bergen Zuflucht. Vergeblich: Die GPU fand ihn. Eine vom Geheimdienst gedungene Bekannte lockte ihn am Abend des 4. Septembers 1937 unter einem Vorwand nach Lausanne. Beim Treffen am Ufer des Lac Léman bremste plötzlich ein schwarzer Citroën neben dem Paar. Kräftige Männerhände zerrten Reiss auf die Rückbank. Reifen quietschten, der Wagen raste davon. Nach kurzer Fahrt warfen die Mörder den Leichnam auf die Strasse. «Sein Körper war von Kugeln durchbohrt, die von einem kleinen Maschinengewehr herrühren müssen», schrieb damals die «Lenzburger Zeitung».

Observierungen und Automiete

Die Täter setzten sich nach Frankreich ab. Nur eine floh nicht: Renate Steiner, Apothekertochter aus Lenzburg. Die junge Frau hatte in Bern den Wagen gemietet, den das Mordkommando für die Tat benutzte. Zuvor hatte sie Reiss während mehrerer Tage observiert. Offenbar handelte sie im treuen Glauben, einem kriminellen Waffenschieber der Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg das Handwerk zu legen. Die Polizei verhaftete Renate (in gewissen Dokumenten und in ausländischen Medien wurde Renata geschrieben) Steiner am 9. September, nachdem sie sich bei der Berner Garage mehrfach ahnungslos nach dem Verbleib des Mietautos erkundigt hatte.

Vom Sowjet-Sozialismus begeistert

So endete ihr Traum von der weiten Welt in einer Gefängniszelle. Renate Charlotte Steiner, geboren 1908, war die Tochter von Franz und Laura Gertrud Steiner-Weise. Ihr Vater hatte 1910 die Stern-Apotheke gegründet. Das heimische Lenzburg, die bürgerliche Schweiz: Das war ihr zu eng gewesen. 1932 geriet die ausgebildete Sekundarlehrerin in Zürich in Kontakt mit kommunistischen Kreisen.

1934 besuchte sie für sechs Wochen Moskau. Wie manche Kommunistin aus dem Ausland war sie begeistert vom sozialistischen Aufbau im Land. Hier wollte sie bleiben, leben, arbeiten. Allerdings erteilten ihr die sowjetischen Behörden keine Niederlassungsbewilligung. In Paris hoffte sie über ein vom GPU infiltriertes «Repatriierungsbüro» für russische Emigranten an die nötigen Papiere zu gelangen. Dafür musste sie sich beweisen, indem sie Überwachungsaufträge übernahm.

«Leute wie Renata Steiner waren nur das unterste, aber unentbehrliche Glied einer Repressionsmaschine, die [...] dissidente Kommunisten auch im Ausland ausschaltete», schreibt der Historiker Peter Huber. Das wenige, was sie wusste, gab Steiner den Waadtländer Polizeibehörden zu Protokoll. Schnell kursierten Details über die spektakuläre Mordtat in der Presse. Auch das kecke Porträtbild Steiners ging um die Welt. Selbst die «New York Times» berichtete von dem «29-year-old Swiss girl».

Wie eine kursorische Durchsicht der «Lenzburger Zeitung» ergab, schwieg sich die Lokalpresse dagegen über die tragische wie delikate Rolle Steiners aus.

1939 wurde die Lenzburgerin in letzter Instanz zu acht Monaten Haft verurteilt. Während des Prozesses lebte die junge Frau wieder bei ihren Eltern in Lenzburg. Über ihren weiteren Werdegang konnte leider nichts in Erfahrung gebracht werden. Offenbar starb Renate Steiner 1986.

* Der Autor ist Historiker und Journalist und in Lenzburg aufgewachsen.

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