Alles wirkliche Leben ist Begegnung

Horst Hablitz

Horst Hablitz

Blinzeln. Illustration: mky

Blinzeln. Illustration: mky

«Hey Lüüt, si mir mol ehrlich», singt der Baschi in seinem neuesten Song. Also gut: Sind wir mal ganz ehrlich. Sind auch Sie stolz auf Ihre gute Menschenkenntnis? Auf die können Sie sich doch verlassen, oder? «In meinem ersten Eindruck hab ich mich so gut wie nie getäuscht!», sagen Sie? – Ist das wirklich so? Oder machen Sie sich da etwas vor?

Einer der heute nicht mehr so populären Gründungsväter der Tiefenpsychologie, Carl Gustav Jung, hat einmal behauptet, die beiden psychologischen Grundfunktionen des Menschen seien a) Wahrnehmen und b) Entscheiden. Wohlgemerkt: Diese beiden Funktionen sind streng voneinander unterscheidbar. Im Wahrnehmungsprozess sammle ich Informationen mit all meinen Sinnen (und auch mit meiner Intuition), die ich anschliessend zu Entscheidungen «verdichte». Je nach herangezogener Literatur sprechen die Psychologen von zehn- bis achtzigtausend (!) Entscheidungen, die wir tagtäglich treffen; die meisten davon unbewusst.

Nun behaupte ich: In unserer westlichen Welt haben wir diese beiden differenzierbaren Funktionen – aufeinandergenietet. Das zeigt sich zum Beispiel bei der «Gewinnung» des ersten Eindrucks. Kaum habe ich eben erst einen mir bis dahin unbekannten Menschen kennen gelernt, zack! schon habe ich ihn als sympathisch/unsympathisch, gebildet/ungebildet, gepflegt/schmuddelig abgestempelt. Dass dieses «Schnellverfahren» vor Zehntausenden von Jahren in der Serengeti möglicherweise überlebensnotwendig war, ist nachvollziehbar: Die sich nähernde Staubwolke am Horizont wahrzunehmen und dann blitzschnell eine Entscheidung zwischen Angriff oder Flucht zu treffen, war durchaus sinnvoll.

Aber heute? Ist es wirklich sinnvoll, auf jede meiner Wahrnehmungen sofort eine «Einstellung», eine Be- oder gar Verurteilung folgen zu lassen? Muss ich wirklich zu allem und jedem sofort eine Meinung haben? Um diese dann auch noch laut herauszuposaunen? Grenzt das nicht zuweilen an Besserwisserei? In unserer als «schnelllebig» bezeichneten Zeit habe ich oft den Eindruck, dass viele Menschen mit diesem Zwang zur schnellen Meinungsbildung überfordert sind. Ihnen kann geholfen werden: zum Beispiel durch regelmässiges Meditieren; denn in der Meditation geht es ganz wesentlich darum, wahrzunehmen, was jetzt gerade ist. Man lernt, sich beim «Gedanken-Entstehen» über die Schulter zu schauen – und enthält sich dabei jeglicher Beurteilung. Das erfordert Übung, die sich allerdings fühlbar entlastend im Alltag auswirkt. Probieren Sie es aus!

«Tipp zum Alltag». Hier schreiben Dozenten des CAS-Studienlehrgangs Achtsamkeit in Lenzburg jeweils einmal im Monat über psychologische Aspekte im Alltag. Die Autoren Horst Hablitz, Thomas Jenelten, Jörg Kyburz und Volker Schulte wechseln sich ab.

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