Synthesis
Wie war das noch mit der Unterscheidung physikalischer und chemischer Vorgänge? Kürzlich war Gelegenheit, beim Abfragen den Schulstoff aus dem Gedächtniskeller zu holen. Zur Klärung der Frage landeten wir bei der exakten Wissenschaft des Kochens: Das Vermengen von Mehl, Eiern, Zucker, Haselnüssen, Butter und geraffelten Rüebli ist ein rein physikalischer Prozess. Die Eigenschaften der Ingredienzen bleiben erhalten. Dann setzt das Erhitzen im Backofen chemische Reaktionen in Gang, Farbe und Form verändern sich. Das Produkt hat nach 55 Minuten bei 180 Grad optimale neue Eigenschaften. Mit Puderzucker bestreuen und die Aargauer Spezialität ist genussbereit.
Der schneeweisse Puderzucker bringt mich zur schwarzen Kobra, dem Herrschersymbol der ägyptischen Pharaonen. Diesmal werden Puderzucker und Natrium-Backpulver miteinander vermengt. Ethanol dient als Zündstoff. Und schon ist die Kobra geweckt, quillt auf, windet sich und tanzt über den Labortisch. Der Duft von Karamell erfüllt das Klassenzimmer. Dieses chemische Experiment mit dem literarischen Namen «Die Schlange des Pharao» vollführte Lehrerin Schwester Beatrice in meiner ersten Lektion am Gymnasium – es kommt ganz ohne Krawumm aus, bietet dafür einen recht spektakulären visuellen Effekt.
Chemie visuell und spannend aufzubereiten, gelingt auch dem diesjährigen Lenzburger Fotofestival. Unter dem Titel «Synthesis» treffen verschiedene fotografische Inhalte, Formen, Positionen und Praktiken zusammen und verbinden sich zu einem grösseren Ganzen – zu sehen in 20 Ausstellungen und zu vertiefen in Workshops und Expertengesprächen. Synthetisiert werden fotokünstlerische Arbeiten über Schuhputzer, Grenzkrieger, Bakterienkolonien, himmlische Buffets, das letzte Abendmahl, Lichtverschmutzung, dunkle Wälder, Metamorphosen und wachsende Wurzeln. In dieser Kombination ein einmaliges Kulturereignis, entzündet mit einer unmessbaren Menge an Engagement und Enthusiasmus. Chemie is where real magic happens.
Christine von Arx, Historikerin