Der Anspruch an Stil ist Stil
«Ach wie stillos, so richtig geschmacklos!». Dieses vernichtende Urteil habe ich nicht nur gedacht, sondern hin und wieder mit dem Brustton der Überzeugung auch laut ausgesprochen. Die auslösenden Situationen sind dabei sehr unterschiedlich: Oft sind es visuelle Ungeheuerlichkeiten, bunkerartige Protzbauten, biologisch tote Steingärten, verunglückte Werbeplakate oder modische Entgleisungen. Als Kommunikationstrainer interessiert mich jedoch am meisten unsere Sprache. Auch hier können Menschen ungeheuerlich stil- und geschmacklos unterwegs sein, zum Beispiel dann, wenn sie ihre privatesten Themen lauthals durch den Zug telefonieren oder wenn ich in den sogenannten sozialen Medien höchst asoziale Kommentare lese, die weder inhaltlich substanziell noch respektvoll in der Tonalität sind. Inzwischen hat dieser Kommunikationsstil leider auch die politische Auseinandersetzung erreicht. Da werden missliebige, politische Kontrahenten öffentlich an den Pranger gestellt. Nichts gegen einen Kampf der Argumente in einem fair geführten politischen Diskurs. Das ist die Stärke unserer Demokratie. Das gilt es, auszuhalten. Das überzeugendere Argument gewinnt. Wenn aber öffentliche Plattformen missbraucht werden, um politisch Andersdenkende als Person zu diffamieren, dann sind für mich die roten Linien des Anstandes und Respekts überschritten. Das ist für mich schlicht schlechter Stil.
Ihr Einwand ist berechtigt: Wie anmassend, davon auszugehen, dass der Schreibende weiss, was guter Geschmack, was eine stilvolle Debatte ist. Um Sicherheit in Stilfragen zu erlangen, gibt es einige gute Möglichkeiten: Inspiration durch ausgewählte Vorbilder, Bildung und Erfahrung, die Wahl eines kulturellen Umfeldes und die Fähigkeit, kritisch über verschiedene Stile und Ästhetik sowie vor allem über sich selbst nachzudenken, sei dies allein oder mit stil- und geschmackvollen Mitmenschen. Und ja, das ist ein Weg, der sich zu gehen lohnt. Denn der Anspruch an Stil ist Stil.
Tinu Niederhauser, Kommunikationsexperte